Georges Bizet

Carmen

14.09.2019
Musikalische Leitung:
Yoel Gamzou (Premiere 2019: GMD Patrick Lange)
Inszenierung:
Uwe Eric Laufenberg
Bühne:
Gisbert Jäkel
Kostüme:
Antje Sternberg (Entwürfe), Louise Buffetrille (Ausführung)
Mit:
Wiederaufnahme 2022.2023: Carmen | Silvia Hauer, Fleuranne Brockway * Don José | Aaron Cawley * Escamillo | Jordan Shanahan * Micaëla | Sumi Hwang * Remendado | Ralf Rachbauer * Zuniga | Mikhail Biryukov * Dancaïro | Erik Biegel * Moralès | Darcy Carroll * Frasquita | Stella An * Mercédès | Fleuranne Brockway, Silvia Hauer * Lillas Pastia | Thomas Braun Premierenbesetzung 2019.2020: Carmen | Lena Belkina * Don José | Sébastien Guèze * Escamillo | Christopher Bolduc * Remendado | Ralf Rachbauer * Zuniga | Philipp Mayer * Dancaïro | Julian Habermann * Moralès | Daniel Carison * Micaëla | Sumi Hwang * Frasquita | Shira Patchornik * Mercédès | Silvia Hauer * Lillas Pastia | Thomas Braun
Chor:
Chor, Extrachor & Statisterie des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden, Jugendkantorei der Ev. Singakademie Wiesbaden
Orchester:
Hessisches Staatsorchester Wiesbaden
Termine:

Spielzeit 2019.2020 / 2020.2021
Spielzeit 2022.2023:
3. (Wiederaufnahme) / 8. / 18. / 25. / 30. Juni 2023
4. / 9. Juli 2023

Trailer | »Carmen«

Rezensionen:

Carmen
Für den größten Aufreger des Abends sorgt Uwe Eric Laufenberg gleich zu Beginn seiner Neuinszenierung der Bizet-Oper. Denn sobald das Vorspiel mit dem ewig schmissigen Torero-Thema einsetzt, lässt der Regisseur (und Hausherr) einen Film auf den Bühnenvorhang projizieren, der vor Augen führt, wie Stierkampf wirklich ist: nämlich verdammt blutig. Wir sehen einen weiblichen Torero, eine Picadora, um genau zu sein, die hoch zu Ross durch die Arena reitet. Mit stolzem Lächeln spickt sie die Schultern eines Stiers mit ihren Spießen. Das Tier schnaubt, gereizt und geschwächt. Die Lanzenspitzen schneiden ins Fleisch, dunkelrote Flüssigkeit sickert ins Fell.

So viel Realismus kommt bei einem nicht geringen Teil des Wiesbadener Premierenpublikums gar nicht gut an. Kräftig wird in die kurze Generalpause der Ouvertüre gebuht. Doch so schön Georges Bizets Musik auch sein mag: »Carmen« wurde nicht dazu erdacht, den Zuschauer drei Stunden lang in eine Wohlfühlkäseglocke zu packen. Hier geht es knallhart um Verführung, Verzweiflung, Mord. Und das in einem ziemlich halbseidenen Milieu. Laufenberg tat also recht daran, das Werk gleich einmal mit etwas Naturalismus zu impfen. Dass es dem Regisseur dabei nicht bloß um den Schockeffekt geht, wird sich dann am Ende des letzten Aktes zeigen. Da mutiert Carmen nämlich durch ihre Garderobe zur Lanzenreiterin der filmischen Eröffnung, und Don José übernimmt durch Körpersprache den Part des Stiers. Nur sind die Rollen nun vertauscht. Das schnaubende, seelisch zutiefst verwundete Tier tötet seine schöne Peinigerin. Indem er den Film zum Vorspiel als allegorische Folie zitiert, verdeutlicht der Regisseur jene Parallele, die uns gleichzeitig auch Bizets Musik aufzeigt: Stierkampf und zwischenmenschlicher Showdown werden ineinander geblendet.

Trotz Anfangsschock und Schlussmetapher bleibt die Regie also ganz nah am Material. Und das durchweg. Eine revolutionäre Neudeutung oder Dekonstruktion der populären Oper offeriert der Regisseur nicht. Dafür aber eine sorgfältig ausgearbeitete Umsetzung der Handlung. Laufenberg und sein Generalmusikdirektor Patrick Lange haben sich bewusst für die Originalfassung der Uraufführung von 1875 entschieden. Mit ihren gesprochenen Dialogen wirkt diese Version wesentlich herber, direkter und realistischer als die später erfolgreichere Variante mit auskomponierten Rezitativen. Durch den hybriden Charakter rückt das Werk näher an die Alltagswelt heran. Allerdings ist die Verbindung von Sprechtexten und Gesangsnummern stets eine heikle Angelegenheit. In Wiesbaden jedoch gelingt sie vorzüglich: Ganz organisch gehen hier, bei exzellenter französischer Aussprache, gesprochenes und gesungenes Wort ineinander über. Was nicht zuletzt daran liegt, dass Laufenberg aus seinen Sängern richtige Schauspieler gemacht hat.

Die Personenregie ist brillant. Da sitzt jede Geste, jede Interaktion wirkt durchdacht und ausgefeilt, von Carmens Balztanz in Fesseln über die burlesken Auftritte des Schmugglerduos Dancairo und Remendado bis hin zu den Aufmärschen des Chors und den Macho-Allüren des Leutnants Zuniga. Selbst die postkoitale Bettszene, mit der die zweite Zwischenaktmusik garniert ist, erscheint völlig natürlich und dazu noch beredt. Während Harfe und Flöte für pastorale Stimmung sorgen, scheinen sich Carmen und Don José, beide noch halbnackt, bereits innerlich voneinander zu distanzieren. Im Dämmerschein eines fiktiven Morgens kreisen sie, zwei matte Gestalten, mit der Bühne von Gisbert Jäkel, die im Hintergrund stets eine Stierkampfarena abbildet, während in ihrer Mitte eine wunderbar wandelbare Wand ständig anderes vorstellt: zunächst die Tabakfabrik, in der Carmen zusammen mit ihren Kolleginnen Zigaretten dreht, dann die Spelunke von Lillas Pastia, schließlich die Berggegend, in der Micaëla Don José zu finden hofft.

Das Opernglas, K. Scharffenberger, 29.10.2019

Unter Druck - Bizets "Carmen" im Staatstheater Wiesbaden

Mit einem weiblichen Matador in einer Stierkampfarena beginnt die Neu-Inszenierung von Georges Bizets „Carmen“ im Staatstheater Wiesbaden. Als Film auf einer über die gesamte Bühnenöffnung gespannten Leinwand. Der Kampf geht blutig aus, und, wenn ihr nicht Toreros zu Hilfe gekommen wären, tödlich für die Protagonistin. Klischee und seine Variation – die Arena setzt sich im abstrahierten Arenenrund mit der dann bis zuletzt filmlos bleibenden Opernhandlung fort, wo Gereizte und Reizende sich in Don José und Carmencita abwechseln. Der Stoff ist unverwüstlich und in allen Konstellationen und Deutungsweisen zig-fach ausgespielt.

Wiesbadens Opernintendant Uwe Eric Laufenberg hat sich denn auch vor Vereinseitigungen des Stoffs gehütet, den erotischen Kampfplatz zwar spezifisch gewichtet, dem Publikum aber bis auf das filmische Vorspiel kreative Überflüssigkeiten erspart. Mehr Gewicht liegt auf einer Bestimmung der Titelfigur, die extravagante, fatalistische oder emanzipatorische Bezüge klein hält. Normalität der Selbstbestimmung könnte man sagen, und das passte auch gut zur Präsenz und Ausstrahlung von Lena Belkina, die wenig femme-fatale-haft, verrucht oder exotisch vermittelt wird. Matador ist sie so eher ungewollt und erliegt letztlich ja dem gereizten Stier, dessen erotisches Zeitfenster einfach länger geöffnet ist als das von Carmen, von deren maximal sechs Monaten pro Liebhaber einmal die Rede ist.

Zur Verunklarung der Kampffront hat sicherlich dazu beigetragen, dass, gegenüber der unbestimmt bleibenden Stimmgebung Belkinas, in der Sängerin der treuen Micaëla die zentrale weibliche Stimme des Abends präsent war: Sumi Hwang. Ihre beiden großen Arien beziehungsweise Duette verschoben die Gewichte der Bedeutung entschieden und machten den Druck auf Don José besonders stark. Die auf Unscheinbarkeit gestylte Sängerin legte enorme vokale Energien frei und zeigte sich in ihrer Artikulation direkt involviert. Sébastien Guèze als Don José bot die zentrale vokale Offensive der Aufführung – von seiner anfänglich kühl-überlegenen Haltung gegenüber Carmens Werben vor der Zigarettenfabrik über das Engagement in der Schmugglerkneipe bis zu den ungeahnten vokalen Emissionen, zu denen der Sänger im Zustand seiner Eifersucht und finalen Kränkung in der Lage war. Großes Volumen, Stabilität in den voll ausgeschöpften Fortissimo-Höhen bis zuletzt. Ein Muster an wohlkalkulierter Stimm-Ökonomie. Wenngleich mit schöner Stimme ausgestattet, aber zu blass und für seine Stimmlage nicht ganz passend, der Escamillo von Christopher Bolduc. Trefflich besetzt waren Frasquita und Mercédès mit Silvia Hauer und Shira Patchornik.

Über die Dichte des finalen Showdown der Oper, die kein Film toppen kann, braucht kein Wort verloren zu werden. Es wäre schon ein regieliches Kunststück hier etwas zu versemmeln. Die kahle Arena des Bühnenrunds (Bühne: Gisbert Jäckel) war der beste Rahmen. Vorher sind sehr schöne Eindrücke vor allem im Schmugglerakt zu gewinnen, wo latent amouröse, fast gehobene Kühlheit, die sich schlagartig in tosenden Wirbel verwandeln kann, vorherrscht. Von größter Wucht die gesamte Torero-Prozession des dritten Akts, in der die Bizet’schen Ohrwürmer mit einer Kraft der Ausgelassenheit exekutiert werden, die einmalig ist. Die Jugendkantorei der Evangelischen Singakademie Wiesbaden sowie Chor & Extrachor des Staatstheaters: erstklassig.

Die musikalische Leitung hatte GMD Patrick Lange, der einen markanten Ton pflegte, der Bizets koloristischen Exotismus jederzeit auf seine formidablen Bedeutsamkeiten hin transparent machte.

Bernhard Uske, Frankfurter Rundschau, 16.09.2019
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