William Shakespeare

König Lear

19.06.2021
Inszenierung:
Uwe Eric Laufenberg
Bühne:
Rolf Glittenberg
Kostüme:
Marianne Glittenberg
Mit:
Musik: Felix Kroll ** Lear | Nicolas Brieger * König von Frankreich | Lukas Schrenk * Herzog von Burgund | Tobias Lutze * Herzog von Cornwall | Christoph Kohlbacher * Herzog von Albany| Christian Klischat * Graf von Kent Michael Birnbaum * Graf von Gloucester | Uwe Kraus * Edgar | Paul Simon * Edmund | Noah L. Perktold (Premiere: Linus Schütz) * Narr | Klara Wördemann, Maria Wördemann * Cordelia | Klara Wördemann, Maria Wördemann * Goneril | Christina Tzatzaraki * Regan | Lina Habicht * Curan | Lukas Schrenk * Oswald | Tobias Lutze * Ritter | Lukas Schrenk
Termine:

Spielzeit 2020.2021
Spielzeit 2021.2022:
16. Januar 2022 - Wiederaufnahme
27. Februar 2022
14. Juni 2022
09. / 21. Juli 2022

Trailer | »König Lear«

Rezensionen:

Ein wankelmütiger „Narr des Schicksals“
Zum Auftakt nach der Wiedereröffnung inszeniert Wiesbadens Theaterintendant Laufenberg einen abgründigen „König Lear“ von Shakespeare
Geschichte wiederholt sich. Die Pest war gerade auf dem Rückzug, die Theater durften wieder spielen, als Skakespeares „König Lear“ 1606 uraufgeführt wurde. Über 400 Jahre später sinken die Zahlen der Infektionen einer modernen Seuche. Und nachdem die Theater lange wegen Corona geschlossen waren, kommt nun in Wiesbaden als erste Premiere eben jener „Lear“ heraus – acht Monate nach seiner Generalprobe im Oktober 2020.
Auch, wenn dieses wuchtige, düstere Werk „ein Winterstück“ sei, so der Wiesbadener Theaterintendant Uwe Eric Laufenberg, der hier auch Regie führt: Die vier Stunden Shakespeare im Großen Haus (mit Pause) mit ihrem fiebrigen Reigen von Treue und Verrat, von Vergeltung und Vergebung markieren einen gelungenen Neustart auch bei hochsommerlichen Temperaturen. Rund 300 geimpfte oder getestete Zuschauer nehmen diese Premiere am Samstag mit herzlichem Applaus auf.
Und wenn vor der zeitgleichen EM-Partie Deutschland gegen Portugal viel über die Team-Aufstellung des Bundestrainers diskutiert wird – ist im Theater an Laufenbergs Auswahl für das personenstarke Stück nichts zu meckern. Hier spielt sozusagen jeder auf der richtigen Position. In der Titelrolle hat Nicolas Brieger den Regiestuhl gegen eine große Rolle eingetauscht. Von Brieger stammen hier Inszenierungen wie „La Traviata“ und „Don Giovanni“, „Hamlet“ und „Nathan der Weise“.
Schmeichelei statt ehrlicher Zuwendung
Sein Lear arbeitet facettenreich den Wankelmut dieses Charakters heraus: Gerade noch jovial, dann aufbrausend, kurz verzweifelt, gleich darauf kämpferisch, Hellsichtigkeit wechselt sich mit Irrsinn ab. Vor allem aber ist dieser Lear eines: Ein Narr. Aber nur bedingt ein „Narr des Schicksals“, wie es bei Shakespeare heißt, sondern einer, der das Schicksal herausfordert: Ein König, der zu Lebzeiten seine Macht an seine drei Töchter abgeben, dazu das Land teilen – und dann auch noch Liebesschwüre dafür hören will, ist genau das: närrisch. Ein Mann, der nur den schönen Worten glaubt, nicht den Taten. Und das hat Folgen: Während seine Töchter Goneril (Christina Tzatzaraki, die lasziv spielt, aber im Großen Haus nur sehr schwer zu verstehen ist) und Regan (angemessen verschlagen: Lina Habicht) – schon durch die stilisierten Kostüme (Marianne Glittenberg) Schlange und Raubtier – dem greisen König schmeicheln, verweigert seine bis dahin Lieblingstochter Cordelia den abgepressten Liebesbeweis. Und bietet pragmatisch-ehrliche Zuwendung. So verstößt der König sein Kind und ist nun als Privatier mit Schal und Hut seinen anderen beiden Töchtern und ihren Männern (Christoph Kohlbacher, Christian Klischat) ausgeliefert. Das wird zu einem Krieg führen, bei dem es nur Verlierer gibt.
Cordelia ist ganz unschuldige Lichtgestalt – gespielt von Klara oder Maria Wördemann. Im Programmheft stehen die Zwillinge gemeinsam für die Cordelia und den Narren. Die eine hell, die andere düster – wie eine janusköpfige Persönlichkeit. Zwillinge im Ensemble zu haben, mit dem Pfund wuchert Laufenberg. Das wäre so, als ob Jogi Löw zwei Joshua Kimmichs hätte – einen rechts, einen für links.
Das Motiv des Narren nimmt bei Laufenberg überhaupt einen breiten Raum ein: Wördemann rappt sich als Puck-Variante mit unbequemen Wahrheiten durch die Geschichte. Und auf den mitunter derben Humor Shakespeares sattelt die Regie noch eine Art Zombie-Truppe auf, die als Gefolge des irren Königs herumspukt. Zu der griffigen Übertragung des 2020 gestorbenen Übersetzers Frank Günther passt das.
Das gilt auch für den aufrechten Graf von Kent zu Michael Birnbaum. Als Gloucester ist Uwe Kraus blind für die Intrigen seines unehelichen Sohns Edmund (großartig in seinem sehr körperlichen Furor: Linus Schütz), und erlebt schließlich wirklich erblindet in seinem verstoßenen Sohn Edgar, der bei Paul Simon zwischenzeitlich zu Tolkiens Gollum mutiert, den Trost im Alter.
Shakespeares Parabel des Verfalls von Macht und Familie – das wird hier im variablen Bühnenbild von Rolf Glittenberg mit wunderbar hintersinnig-doppeltem Boden und Video-Projektionen von marschierenden Soldaten trotz ein paar Längen als breites Panorama überzeugend erzählt. Und wenn dann noch beim Hinausgehen jemand das Ergebnis des EM-Spiels verrät, dann kann man nur von einem gelungenen Abend sprechen.

Birgitta Lamparth, Wiesbadener Kurier, 21.06.2021

„König Lear“: Der quengelige alte Mann

In Wiesbadens Großem Haus hat Intendant Uwe Eric Laufenberg Shakespeares „König Lear“ in der feinen Übersetzung Frank Günthers jetzt vier Stunden (mit Pause) Raum gegeben. Und sich sicherlich einiges dabei gedacht, als er die Zwillinge Klara und Maria Wördemann als Cordelia und Narr besetzt: Denn der Narr ist ein Meister der Wortjonglage, trotzdem scheut er sich nicht, seine Meinung zu sagen. Eine Möglichkeit blitzt hier auf, wie Cordelia auch sein könnte: auf wirkungsvolle und letztlich sogar dem Frieden auf der Insel dienliche Weise beredt. [...]

Wie überhaupt Laufenbergs „Lear“ zwar den Text respektiert, was ja wirklich kein Nachteil ist, der Regisseur in seiner Inszenierung auch eine durchaus angenehme Nüchternheit und Schnörkellosigkeit bevorzugt. [...]

Da findet es Lear unerhört, dass er keinen Ritter-Tross von 100 Mann mehr haben soll, sondern nur von 50 (Goneril und Regan werden begehren, dass das Gefolge weiter schrumpft, aber das weiß er noch nicht). Aus dem Off hört man seit einer Weile schon ein dichtes Gewebe aus Männerstimmen, sie feiern, trinken, singen. Und als dann noch auf der Bühnenrückwand ein Video eingeblendet wird, das Soldaten im millimetergenauen Stechschritt zeigt, denkt man: Es soll einem ein alter Mann gezeigt werden, der zwar freiwillig in Rente geht, der aber nicht sein kann ohne die Insignien der Macht und das Gefühl, dass er noch wichtig ist. Nicolas Brieger gibt als Lear folgerichtig einen herrischen, aber auch quengeligen Alten. [...]

Der Wiesbadener Abend hat etwas Geschäftsmäßiges, Routiniertes. Das sich übrigens auch auf die Kostüme von Marianne Glittenberg erstreckt: Schwarz-goldene Eleganz und Pumps für die bösen Töchter, ein weißes Kleid für die Gute, lange Unterwäsche für den wahnsinnigen (Ex-)König, Fast-Nacktheit für Edgar (Paul Simon), wenn er den Verrückten vortäuscht. [...]
Da wird die ganze Bühnenmaschinerie aufgeboten, senkt sich ein Boden, aus dem Grabsteine ragen, blitzt und donnert und schüttet es. Brieger gibt glücklicherweise nicht den großen Tragöden, er ist ein verwirrter alter Mann in einem Unwetter, aber sein getreuer Kent, Michael Birnbaum, versucht gefühlte drei Dutzend Mal, ihm eine Decke umzuhängen, die er entweder abschüttelt oder die von selbst runterrutscht.

Sylvia Staude, Frankfurter Rundschau, 20.06.2021

Wenn Staatschefs Idioten sind - Shakespeares „König Lear“ in Wiesbaden.

Wenn es nicht so traurig wäre, müsste man fast lachen. Reihenweise fallen in der letzten halben Stunde dieses verwirrend hybriden Trauerspiels die Leute tot um, gefällt von ihrer Gier, Bosheit und Mordlust, manch einer, wie die titelgebende Hauptfigur, stirbt schlichtweg an gebrochenem Herzen. Dabei gibt es nicht einmal eine kunstvoll eingefädelte Intrige wie im „Othello“, auch keinen großen Edelschurken à la Jago oder Richard III. Es gibt, vom greisen König einmal abgesehen, nur reichlich mittelmäßiges Personal. Und nicht nur das macht William Shakespeares „König Lear“ zu einer Herausforderung für jede Inszenierung.

Denn im Grunde zeigt das Stück in einer einzigen fallenden Linie die Auflösung staatlicher Ordnung, wenn Idioten an der Spitze stehen. Die zwei alten Narren, die sich hier selbst und infolge simpelsten Betrugs um Amt und Leben bringen, sind Britanniens König Lear (Nicolas Brieger) und sein treuer Lehnsmann Graf von Gloucester (Uwe Kraus). Lear teilt sein Reich ausgerechnet unter seine beiden heuchlerischen Töchter Goneril (Christina Tzatzaraki) und Regan (Lina Habicht) auf, die ihn ehrlich liebende, ihm nicht schmeichelnde Cordelia (gespielt von Klara und Maria Wördemann) schickt er verblendet in die Verbannung.
Ganz staatsmännisch

Närrisch ist der alte Mann schon hier, wo er sich noch ganz staatsmännisch im Besitz der Macht wähnt, nicht erst viele Akte später, als er sich, begleitet nur von seinem Narren (ebenfalls vom Zwillingspaar Wördemann gespielt, eine sehr wirkungsvolle Besetzungsidee) und dem treuen Graf Kent (Michael Birnbaum), obdachlos, geistig verwirrt und zugleich hellsichtig durch die Sturmnacht schleppt.

Während Lear an seinem Unglück selbst schuld ist, wird Gloucester Opfer der billigen Intrige seines unehelichen Sohnes Edmund (Linus Schütz), dem es gelingt, seinen Halbbruder Edgar (Paul Simon) in Misskredit zu bringen und, nachdem er den Alten durch Verrat vollends ausgeschaltet hat, selbst Vorstand des Hauses Gloucester zu werden. Mit Edmund immerhin hat das Stück einen passablen Schurken, er ist der Einzige, der hier richtig wüten darf, schon deshalb ragt er unter dem mediokren Restpersonal, die allesamt nur mehr oder weniger Opfer sind, heraus.

Uwe Eric Laufenbergs schnörkelloser Inszenierung gelingt es, die tieferen Beweggründe für die Gewalteskalation der letzten halben Stunde plausibel zu machen. Da er auf nahezu neutrale, an das Militär des 20. Jahrhunderts angelehnte Kostüme von Marianne Glittenberg setzt und Verkleidungen nur durch einen Mantel oder eine Kappe erkennbar werden, wirkt es, dass weder Lear noch Gloucester ihre nächsten Verwandten und Getreuen erkennen.

Es ist, als verhindere nicht nur der gewaltsame Verlust der Augen, wie bei Gloucester, sondern eine weit größere, metaphorische Blindheit, dass sie klarsehen. Vieles in „König Lear“ wirkt ohnehin wie eine Ansammlung von parabelhaften, tragikomischen Miniaturen, der große dramaturgische Zusammenhang zerfasert im zweiten Teil. Wenn man, wie in Wiesbaden, anfangs mit recht wenigen Strichen, nach der Pause mit stärkeren Raffungen spielt, fällt diese Diskrepanz noch mehr auf.

Während Laufenberg in den ersten zwei Stunden im nahezu leeren Betonraum des opulenten Großen Hauses des Staatstheaters (Bühne Rolf Glittenberg) ganz auf die Kraft seiner durchweg eindringlich spielenden Darsteller setzt, ist die Szenerie nach der Pause wie verwandelt. Nun hebt und senkt sich der hintere Bühnenteil, es wabert Nebel, Schauspieler fallen mit Schwert und Messer übereinander her. Dazu werden auf den Hintergrund paradierende und kämpfende Soldaten projiziert, man sieht die Trümmer von Berlin oder Bagdad. Ein Wink mit dem Video-Zaunpfahl: Dahin führt es heute, wenn die Staatschefs Idioten sind?

Viele schauspielerische Einzelleistungen und eine durchweg düstere, bedrückende Atmosphäre. Gewidmet ist die Aufführung dem großen Shakespeare-Übersetzer Frank Günter, dessen Text auch hier gespielt wird. Er starb am 15. Oktober 2020, wenige Tage vor der eigentlich geplanten Premiere.

Matthias Bischoff, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.06.2021
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