Richard Wagner

Parsifal

25.07.2016
Musikalische Leitung:
Semyon Bychkov (Premiere 2016: Hartmut Haenchen)
Inszenierung:
Uwe Eric Laufenberg
Bühne:
Gisbert Jäkel
Kostüme:
Jessica Karge
Mit:
Wiederaufnahme 2019 => Amfortas | Ryan McKinny - Titurel | Wilhelm Schwinghammer - Gurnemanz | Günther Groissböck - Parsifal | Andreas Schager - Klingsor | Derek Welton - Kundry | Elena Pankratova - u.a. // Premierenbesetzung 2016 => Amfortas | Ryan McKinny - Titurel | Karl-Heinz Lehner - Gurnemanz | Georg Zeppenfeld - Parsifal | Klaus Florian Vogt - Klingsor | Gerd Grochowski - Kundry | Elena Pankratova - 1. Gralsritter | Tansel Akzeybek - 2. Gralsritter | Timo Riihonen - 1. Knappe | Alexandra Steiner - 2. Knappe | Mareike Morr - 3. Knappe | Charles Kim - 4. Knappe | Stefan Heibach - Klingsors Zaubermädchen | Anna Siminska, Katharina Persicke, Mareike Morr, Alexandra Steiner, Bele Kumberger, Ingeborg Gillebo - Altsolo | Wiebke Lehmkuhl
Chor:
Bayreuther Festspielchor
Orchester:
Bayreuther Festspielorchester
Termine:

Sommer 2016
Sommer 2017
Sommer 2018
29. Juli 2019 - Wiederaufnahme
2., 5., 15., 19., 22., 26. August 2019

Rezensionen:

Die Laufenberg Inszenierung verabschiedet sich
PARSIFAL - Erlösung in Sicht?
Nach der vierten Spielzeit verabschiedet sich Uwe Eric Laufenberg mit seinem „Parsifal“ von der Bayreuther Festspielgemeinde. Die Inszenierung, in der der Regisseur Krieg, Terror und Flüchtlingselend bildkräftig und symbolstark auf die Bühne des „Grünen Hügels“ bringt, hat auch im Sommer 2019 leider nichts von ihrer Aktualität verloren, ganz im Gegenteil.
Eine Welt, in der sich die „Sea-Watch“-Kapitänin Carola Rackete für scheinbar selbstverständliche Menschlichkeit vor einem italienischen Gericht verantworten muß, schreit nach mehr als nur Rettungsschiffen – daß die „Open Arms“ zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Zeilen nach knapp dreiwöchiger Odyssee am 21. August auf Lampedusa anlanden darf, läßt zwar die Flüchtlinge an Bord jubeln, sollte aber den Ländern Europas die Schamesröte in die neo-nationalstaatlichen Gesichter treiben. Mitarbeiter deutscher Behörden, die immer noch gut integrierte Afghanen in das angeblich sichere Kabul abschieben, sind gut beraten, sich die entsetzlichen Bilder nach dem Selbstmordattentat auf eine Hochzeitsgesellschaft am 17. August in der afghanischen Hauptstadt vor Augen und Herzen zu halten.
Die Betonung christlicher Werte gerät gerade vor diesem Hintergrund zur polarisierenden Heuchelei, wenn die patriotischen Retter des Abendlandes Islamismus mit Islam gleichsetzen und vergessen, daß der Krieg in Syrien die Fortsetzung des Kolonialismus mit anderen Mitteln, vulgo: ein Stellvertreterkrieg, ist.

Ist der Schwenk nach Bayreuth an dieser Stelle legitim? Aus zwei Gründen sicherlich: Wagners „Ring“ ist durchdrungen von Kapitalismus- und Machtkritik, sein politisches Engagement war weit mehr als eine Jugendsünde, auch wenn der reaktionäre Teil der Rezeption das gerne so sieht und damit herabmindert. Sein „Weltabschiedswerk“, der „Parsifal“, stellt schon allein im Rückgriff auf buddhistische Aspekte bewußt überchristlich religiöse Grundfragen. Ebendiese greift Laufenberg ungemein vielschichtig auf und verbindet sie organisch mit dem aktuellen politischen Geschehen.
Der Regisseur konnte sich in den Kritiken von 2016 bis jetzt einiges anhören, von den Vorwürfen der Islamfeindlichkeit, über die dramaturgische Pervertierung des Abendmahls bis zur Oberflächlichkeit und Albernheit. All diese Stimmen haben die Inszenierung nicht verstanden, haben nicht, um mit Gustav Mahler zu sprechen, das wahrgenommen, was „nicht in den Noten“ steht.
Der Bamberger Erzbischof Ludwig Schick empfand Laufenbergs Inszenierung als „für einen Christen anstößig“ und warf dem Regisseur vor, nicht im Sinne Wagners gehandelt zu haben.
Es ist immer recht einfach, wenn man scheinbar eindeutige Gedanken und Haltungen von Künstlern annimmt und diese dann für eigene Positionen instrumentalisiert. Hier lohnt ein Blick auf des Meisters ausgesprochen differenzierte Religiosität, wobei man bei Wagner zusätzlich immer auf Widersprüchliches gefaßt sein darf. Tatsächlich spricht er mal vom „gift der religion“, an anderer Stelle bringt er seine Freude zum Ausdruck, „so hartnäckig auf dem christlichen Standpunkte gestanden zu haben“. Auf den Vorwurf spiritueller Beliebigkeit hätte Wagner sicher mit Eva aus den „Meistersingern“ entgegnet: „Hier gilt´s der Kunst!“, denn, wie Claus Dieter Osthövener („Erlösung“, 2004) so deutlich herausgearbeitet hat, war Wagner bzw. seine Kunst exakt dann christlich, „wenn es dem jeweils zur Darstellung drängenden Gedanken diente.“

Das gilt vor allem für seine letzte Oper. Zu den zentralen Elementen Taufe und Abendmahl im „Parsifal“ gehört versöhnend und beschließend die Auferstehungshoffnung im Karfreitagszauber. Daß diese allerdings schon im er sten Aufzug thematisiert wird, scheint bislang noch zuwenig beachtet worden zu sein. „Treu bis zum Tod“ wollen die Gralsritter sein, wenn sie den Leib Christi zu sich nehmen, um ihn „kühn zu Leibes Kraft und Stärke“ zu wandeln – die Wandlung wird hier also durch den Gläubigen selbst vorgenommen, was einen subjektivierten Protestantismus durchscheinen läßt. Diese Treue in der Assoziation mit den Worten „kühn“ und „fest“ in der Textstelle „fest jedem Mühn, zu wirken des Heilands Werke!“ erscheint martialisch-männerbündlerisch, verweist aber auch auf die Johannesoffenbarung, 2,10: „Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben“. Es geht hier also weniger um religiösen Kadavergehorsam, als vielmehr um die Hoffnung auf das ewige Leben. Wagner ist der Meister der Mehrschichtigkeit und das hat Laufenberg im Innersten begriffen.
Dieser „Parsifal“ ist voller Geniestreiche, deren einer die völlig neuartige Darstellung der Schwanenszene ist. An die Schwanentötung hat man sich dermaßen gewöhnt, daß nur derjenige Mitleid mit dem armen Tier hat, der die Oper zum ersten Mal sieht. Das hier von Wagner thematisierte hinduistisch-buddhistische Prinzip des Ahimsa, also der religiös-sittlich begründeten Gewaltlosigkeit, hat nach 137 Jahren „Parsifal“ spürbar an Brisanz verloren und ist nicht anrührender als sänge man „Der Schwan ist tot, der Schwan ist tot“.

In Kombination mit dem tot zusammenbrechenden Flüchtlingskind aber wird klar, daß es hier um echte Opfer von Krieg und Flucht geht. Der Tumbetor – Andreas Schager spielt ihn ebenso treffend naiv wie er auch sängerisch jede Entwicklungsphase des Titelhelden differenziert darstellt – hat eben nicht irgendeinen Vogel abgeschossen, sondern ein Verbrechen begangen. Daran läßt ein vom ersten Ton an großartig präsenter und strenger Günther Groissböck als Gurnemanz keinen Zweifel. Während die Gralsritter nur zetern, zeigt Kundry, die den Jungen in die Arme nimmt, Trauer und vor allem wahres Mitleid – darum geht es zentral im „Parsifal“. Wer bei dieser Szene nicht weich wird, ist ein grober Klotz. Und wer von den Kritikern immer noch nicht begriffen hat, daß hier dem ertrunkenen Flüchtlingskind Aylan Kurdi eine bestürzende Memoria gewidmet wird, dem ist nicht zu helfen.
Zu Herzen geht auch, wenn die Gralsritter – im phantastischen Chor unübertroffen präzise, drängend und aggressiv – den geplagten Amfortas anzapfen, ja ihn sakral ausmelken. Ryan McKinny stöhnt so authentisch leidend, wenn ihm das Messer in die Seitenwunde gestoßen wird, daß man ihm tiefsten Schmerz abnimmt. Das Bild des nahezu ausblutenden Christus/Gralskönigs macht deutlich, wie die mittelalterlichen Darstellungen von Jesus als Schmerzensmann auf die Gläubigen gewirkt haben mögen. Das ist kein inflationäres Blutvergießen, man empfindet Fremdschämen für die blutgierige Gemeinschaft. Und eben aufrichtiges Mitleid mit Amfortas. Laufenberg wäre so oberflächlich, wie ihm mitunter vorgeworfen wurde, wenn er die von Klingsor als „Rittergezücht“ beschimpfte Versammlung allein unsympathisch und oberflächlich dargestellt hätte. „Jesus 'runter vom Kreuz und wieder 'ran ans Kreuz“ – so einfach ist das nicht. Die mönchischen Krieger nehmen Christus leiblich ernst und wickeln die Figur wie einen Leichnam vorsichtig in ein Laken – angebetet wird anschließend durch das Kreuz als Symbol das, was über den Gekreuzigten hinausgeht.
Schlichtweg genial ist die endlich einmal gelungene Verarbeitung des Satzes „Zum Raum wird hier die Zeit“, über den man hätte trefflich mit Einstein oder Heisenberg diskutieren können. Der Flug ins All und zurück als Videoprojektion dürfte als einer der intelligentesten Einfälle zu dieser immer noch vielfach deutbaren Textstelle in die Dramaturgiegeschichte eingehen. Das ist der Schwenk vom Grünen Hügel/der Gralsburg in die große Politik und an die Grenzen des Begreifbaren. Deswegen funktioniert diese Inszenierung auch so gut.

Mißverstanden wurde auch der Klingsor-Aufzug und es war von vornherein abzusehen, daß die Kritiker sich vor allem auf das verschwindende Detail des Penis-Kreuzes stürzen würden. Das ist ebenso platt wie die Reduktion von Darwins Theorien auf den nicht einmal korrekt wiedergegebenen Satz, daß der Mensch vom Affen abstamme. Dieser Klingsor ist zerrissen, suchend, planlos, was Derek Welton absolut glaubhaft vermittelt. Er haßt alle anderen und sich selbst. Und nein – er ist kein Muslim. Laufenbergs Klingsor schwankt zwischen aus mangelnder Identität geborenem Fundamentalismus und dem Sammeln von Trophäen seiner Gegner. Seine Mittel sind dementsprechend durchschaubar: die Blumenmädchen sind erst dann wirklich verführerisch und überraschend, wenn sie ihre wahre Gestalt zeigen und das tun sie durch das Ablegen des Niqab und die Verwandlung in viele bezaubernde Jeannies. Nachdem sie den Toren seiner Kleider entledigt haben – der Sänger hat am Ende tatsächlich scheinbar nichts mehr an, was aber mit feiner Diskretion auf die Bühne gebracht wird – versuchen sie ihn im Bassin des Hamam auf die schiefe Bahn zu bringen. Nebenbei: Kaum einem dürfte das Wortspiel der Verwandlung vom „Haram“ zum „Hamam“ aufgefallen sein. Der verbotene Bereich wird von Parsifal geknackt und im Zusammenspiel mit den Mädchen verwandelt, wie sich eben alles stetig wandelt im Stück und in der Inszenierung. Wenn ein Kritiker nicht versteht, was die Kreuzessammlung im Hamam soll, dann empfiehlt sich genaue Inaugenscheinnahme. Der unter Kontrollzwang leidende Zauberer steht mit seinen Trophäen über dem als Falle gedachten Verführungsbereich wie ein unseriöser Kapitän auf der Brücke eines zum Sinken verurteilten Seelenfängers.
Hier folgt ein weiterer Geniestreich der Regie: eine vor allem in diesem Aufzug überzeugend jugendlich-lyrisch frisch strahlende Elena Pankratova als Kundry tauft Parsifal – sie nennt ihn nicht nur beim Namen (Jesaja 43,1 – „ich habe dich bei deinem Namen gerufen“), sondern hebt ihn gleichsam aus dem Taufbecken. Das tut sie unbewußt und bereitet so ihre Aufnahme in die christliche Gemeinschaft im dritten Aufzug vor. Das Element des Unbewußten ist ein genuin Wagnerisches – man hätte hier nicht treffender inszenieren können.

Der Gesamtkunstwerkler hätte uns sicher um unsere filmischen Möglichkeiten beneidet. Das Bild des von Klingsor geschleuderten Speeres, der über Parsifals Haupt schwebend zum Stehen kommt, kann man eigentlich nur im Trickfilm bzw. in der Computeranimation darstellen. Hier aber passiert etwas ganz anderes: Parsifal nimmt dem Zauberer die Waffe einfach aus der Hand, bricht gleichsam den Stab über ihn und macht die Lanze zum Kreuz.
Dieses Kreuz ist ein wahres, ein wirkmächtiges Kreuz, da es aus einer Berührungsreliquie besteht – die gewandelte Lanze hat ebenso unbarmherzig in Christi Seite gesteckt wie der Dolch bei Amfortas im ersten Aufzug. Die anderen Kruzifixe aus Klingsors Sammelbude fallen herab, da sie eben nur inhaltslose Trophäen und durch inflationären Gebrauch wertlos gewordene Symbole sind. Auch das hat die Kritik vielfach nicht verstanden.
Nicht minder gilt das für den dritten Aufzug mit den übergroßen, durch die Ruine gewachsenen Pflanzen und der bewußt überzeichneten Paradiesszene im Hintergrund. Die Natur ist groß, größer als die wie Käfer scheinenden Menschen, und wird diese überdauern. Auch ihre Vorstellungen vom Paradies. Da darf man gerne ein bißchen mit Rousseau spielen und zwar mit dem Philosophen wie mit dem Maler. Zudem erinnert die Szene deutlich an Max Brückners Gemälde „Klingsors Zaubergarten“ nach dem Entwurf von Paul von Joukowsky zur Bayreuther Erstaufführung 1882, mit dem Unterschied, daß hier nicht Klingsors fauler Zauber am Werk ist, sondern sich die Natur unbeirrt ihren paradiesischen, überreligiösen Weg bahnt.
Laufenberg hat Wagners Einladung zum Werkstattheater angenommen und immer wieder an der Inszenierung gefeilt. In der Videoprojektion, die den Weg zur Gralsburg begleitet, hat Laufenberg diesmal in die fallenden Strukturen, die als Wasser oder auch verrinnender Sand im ganz großen Stundenglas gedeutet werden können, die Gesichter von Winifred und Wolfgang, schließlich die Totenmaske Richard Wagners eingeblendet. Winifred („auch eine Kundry“, wie der Regisseur im persönlichen Gespräch meinte), das tiefbraune Führerliebchen, der halsstarrige, kompromißlose Wolfgang und der Meister selbst, der es immer wieder schafft, daß man seine ekelhaften, aus den Komplexen eines in mancherlei Hinsicht zu kleinen Mannes resultierenden Auslassungen über die Juden beim Genießen seiner Musik stets temporär vergißt – sie alle sind schon jenseits von Gut und Fascho-Böse.

Hätte Wagner seine geplante Buddha-Oper „Die Sieger“ realisiert, hätte wahrscheinlich die ganze Rezeption ein anderes Gesicht bekommen. Aber dafür leitet Laufenberg am Ende die Erfüllung von Wagners Nirwana-Erlösungs-Sehnsucht ein. „Kinder, macht Neues!“, ist eines der sympathischsten Zitate des Meisters und so wird hier sein Beleuchtungsprogramm einmal umgedreht. Es war ihm ein wesentliches Anliegen, das Licht im Zuschauerraum so zu dämpfen, daß sich das Publikum allein auf das Bühnengeschehen konzentrieren konnte. Eröffnet wird dies durch das Ablegen der unterschiedlichen religiösen Symbole in den Sarg Titurels, der nur noch Staub oder den Sand des ganz großen Stundenglases enthält. Wohlgemerkt: die Symbole werden entsorgt, nicht die Religion oder das Göttliche an sich. Das gilt auch für das Kreuz aus der Heiligen Lanze – so stark es Klingsor niedergerungen hat, es wandelte sich auf dem Wege zu Parsifals Wander- oder Pilgerstab und schließlich zum bloßen Symbol.
Aus dem Bühnenhintergrund nun erstrahlt Licht durch den Gralstempel, das wie warmes Tageslicht wirkt. Dieses Licht wird von der Beleuchtung des Festspielhauses aufgenommen, verbindet den einen Tempel mit dem anderen und umarmt das Publikum zu einer unio mystica. Nun darf assoziiert und selber gedacht werden: „es werde Licht!“, das Licht der Welt als Christusmetapher, das Licht der Aufklärung? Vor diesem großartigen Einfall wirkt die früher so gerne verwendete Taube am Bindfaden wie ein Schießbudenvogel.
Flache Lösungen im Sinne eines christlichen Mainstreams vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussionen über Religionen, Extremismus und Terror wären oberflächliche Angebote in solch einer vielschichtigen und intelligenten Inszenierung gewesen. Dann hätte Laufenberg auch eine – ebenfalls fast immer nicht wirklich verstandene – deutsche Lieblingsikone wie Caspar David Friedrichs „Kreuz im Gebirge“ als Schlußbild verwenden können.
Es steht dem Zuschauer nun frei, wie er mit diesem lichten Moment umgeht. Die Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong nennt einen „mystischen Agnostizismus“ als mögliches Modell einer religiösen Offenheit, die aber ein dogmatisches Selbstvertrauen verhindern kann. Laufenberg läßt aber auch einen anderen Schluß zu: Gott ist groß. Größer als jede Religion.

Andreas Ströbl, Der Opernfreund, 23.08.2019

Eine erlöste Welt nur ohne Religion?

Eine unkonventionelle Inszenierung von Wagners Parsifal nimmt Wolfgang Schürger zum Anlass, darüber nachzudenken, wie ideologisch bedingte Konflikte überwunden werden können.

Die Bundeskanzlerin liebt die Richard-Wagner-Festspiele in Bayreuth - aber auch viele Queers. Der Grüne Hügel ist immer auch der Ort für ein vor allem schwules Stelldichein. Doch regelmäßig taucht im Freundeskreis dann auch die Frage auf: "WIe kannst du da hin gehen? Wagner war doch auch ein Wegbereiter für die Nationalsozialisten!?" Das ist vermutlich etwas verkürzt gesagt, denn der Komponist selber ist ja schon 1883 gestorben - aber ja, auch Adolf Hitler war mit großer Begeisterung bei den Festspielen zu sehen, und die Ouvertüre zu Rienzi wurde unter den Nationalsozialisten zur Ouvertüre der Reichsparteitage.
Wagners zweite Frau Cosima, die ihn um fast 40 Jahre überlebte und nach seinem Tod lange die prägende Figur in Bayreuth war, pflegte ab 1888 engen Kontakt zu Houston Steward Chamberlain, der nun zweifelsohne einer der wichtigsten Vordenker der Nazi-Ideologie war. Chamberlain wie Hitler - und wohl auch mancher Schwuler heutzutage - liebten das Monumentale und Erhabene in Wagners Musik. In seinen Werken fanden sie freilich durchaus auch Anknüpfungspunkte für ihren politischen Antisemitismus. In seiner Broschüre "Das Judenthum in der Musik", unter Pseudonym veröffentlicht 1850, namentlich 1869, vertritt er eindeutig antisemitische Positionen, auch die Figur des Beckmesser in den Meistersingern ist als Karikatur eines Juden gezeichnet (und musikalisch untermalt). Dabei muss man allerdings bedenken, dass Antisemitismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der deutschen Gesellschaft weit verbreitet war. Wagner nutze sie offenbar vor allem, um seine Konkurrenten Felix Mendelssohn-Bartholdy und Giaccomo Meyerbeer zu diffamieren. Ein politischer Antisemitismus war ihm eher suspekt, denn wer Wagner näher betrachtet - und zwar sowohl die Person selbst als auch seine Musik, entdeckt dagegen sehr schnell, wie revolutionär Wagner war. Die revolutionären Strömungen der 1840er Jahre konnten Wagner zum Beispiel durchaus begeistern. 1849 beteiligte er sich aktiv am Dresdner Maiaufstand mit dem Ziel, König Friedrich August II. von Sachsen zu stürzen und eine sächsische Republik zu etablieren. Der Aufstand scheitert und Wagner flieht mit gefälschtem Pass in die Schweiz. Mit seinem Zeitgenossen Karl Marx teilt er die Begeisterung für die Philosophen Feuerbach und Schopenhauer, und auch die Schriten von Karl Marx selbst finden in Wagner einen Bewunderer.

Wagner-Regisseure freilich stehen seit der Nachkriegszeit immer wieder vor der Herausforderung, Wagners Werke so zu inszenieren, dass ihre Ideologie-Anfälligkeit durchbrochen wird. Der Parsifal, Wagners "Bühnenweihfestspiel", stellt hier eine besondere Herausforderung dar, da sich darin alles um den Karfreitag und die Feier des eucharistischen Mahles zu drehen scheint. Groß ist die Versuchung, dieses Werk als Zeichen der Überlegenheit des christlichen Glaubens zu inszenieren - mit einer machtvollen Eucharistiefeier als Schlussszene.

Dass Uwe-Eric Laufenberg, der Regisseur der aktuellen Bayreuther Aufführung, möglicherweise anderes im Sinn hat, lässt sich bereits beim ersten Bild erahnen, das die Gralsburg in eine durch einen der vielen aktuellen Bürgerkriege zerstörte Kirche verlegt. Im zweiten Aufzug erscheint dann Parsifals Widerpart, Klingsor, in der Rolle eines Sultans, der in seiner Schatzkammer christliche Kreuze hortet, die er offensichtlich von den Menschen erbeutet hat, die in seinem Hamam vom christlichen Glauben abgefallen und den Verlockungen der schönen Frauen erlegen sind. Im dritten Aufzug gesellen sich zu Christen und Muslimen dann noch Juden und Atheisten, die alle gemeinsam auf die Ankunft Parsifals warten, der das große Erlösungswerk vollbringen soll. Der Zuschauer fragt sich in diesem Moment, wie eine eucharistische Feier hier noch Verbindung schaffen kann.

Parsifal erscheint dann auch keineswegs (wie häufig in anderen Inszenierungen) in der stilisierten Kleidung des Templerordens, sondern in einem schlichten schwarzen Anzug. Die Musik steigert die Dramatik der Szene, wie dies nur Wangersche Kompositionskunst vermag - und schließlich vollbringt der Held das große Erlösungwerk. Doch nicht im erneuten Vollzug der Eucharistiefeier, die Laufenberg im ersten Aufzug durchaus sehr blutrünstig darstellen konnte, sondern indem er alle religiösen Symbole und alle Zeichen von Ideologie in einem schwarzen Sarg versenkt. Die so von ihren ideologischen Barrieren Erlösten fallen sich gegenseitig in die Arme, der Vorhang fällt.

Es ist beeindruckend, wie stimmig Laufenberg die religions- und ideologiekritische Interpretation des Parsifal gelungen ist - angesichts der eucharistischen Prägung des Stückes wirklich genial! Der Regisseur bringt die Zuschauer*innen mit seinem Werk zweifelsohne ins Nachdenken darüber, in wie vielen Regionen der Welt aktuell religiöse oder weltanschauliche Ideologien Konflikte zumindest verstärken, wenn nicht sogar hervorrufen. Und doch bleibt für den Christen oder die Christin unter den Zuschauer*innen ein fahler Beigeschmack: Gibt es nicht auch die andere, die lebensförderliche, versöhnende Seite von Religion?

Gerade als queere Christ*innen haben sich viele von uns mit diesen Fragen nach der Rolle von Religion auseinandergesetzt: Diskriminierung von Queers ist in bestimmten Interpretationen des christlichen Glaubens nach wie vor zu finden - und viele von uns haben diese Diskriminierung erlebt und mussten sich mit entsprechenden Argumenten auseinandersetzen. Doch viele von uns haben auch die andere Botschaft gehört: "Gott nimmt dich an als sein geliebtes Kind, er hält dich und trägt dich, ganz egal, was andere von dir denken!" Die Liebe Gottes gilt allen Menschen - bedingungslos. Jesus von Nazareth hat das in seinem Verhalten gegenüber Minderheiten und Andersgläubigen deutlich gemacht, der Apostel Paulus hat in seinem Brief nach Galatien die Konsequenzen unmissverständlich formuliert: "Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt eins in Christus Jesus." (Gal 3,28). Ich bin überzeugt, dass diese Weite der Liebe Gottes auch Konsequenzen hat für das Miteinander der Religionen. Wir haben im ökumenischen Dialog gelernt, uns in unserer Verschiedenheit anzunehmen, jetzt geht es darum, dies auch im interreligiösen Dialog zu leben. Denn auch wenn religiösen Überzeugungen heute in vielen Teilen der Welt Teil des Problems von Gewalt sind - sie können auch zur Lösung beitragen.

Wolfgang Schürger, www.evangelisch.de, 14.08.2019

"Parsifal" in Bayreuth: Kurz vor Schluss doch noch ein Hit

Das gibt es manchmal in Bayreuth: Dass Inszenierungen, die eher unspektakulär einsteigen, die bei der Premiere nicht übermäßig euphorisch rezensiert aber auch nicht besonders leidenschaftlich ausgebuht werden, dass also ein zunächst wenig Aufsehen erregendes Stück mit der Zeit zum Publikumsliebling avanciert. Mit Uwe Eric Laufenbergs "Parsifal", der seit 2016 und heuer zum letzten Mal läuft, scheint das passiert zu sein.

Die dritte von sieben Vorstellungen (es folgen noch der 15., 19., 22. und 26. August) fand jedenfalls einhellige, lautstarke Zustimmung. Vielleicht, weil Laufenbergs religionsskeptischer Ansatz in diesen vier Jahren reichlich Unterfütterung durch die reale Welt bekommen hat. Das Zitat des Dalai Lama, "Ich denke an manchen Tagen, dass es besser wäre, wenn wir gar keine Religionen hätten", Motto des Programmbuchs, hat zumindest nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Im Gegenteil.

Vielleicht auch, weil Laufenbergs Konzept schlüssiger wirkt als zu Beginn, ohne dass man genau sagen könnte (Stichwort Werkstatt Bayreuth), was der Regisseur nach und nach korrigiert hat. Zumindest jenseits offensichtlicher Veränderungen wie der, dass sich im dritten Aufzug inzwischen nicht nur nackte Frauen im Dschungelregen tummeln, sondern auch ein nackter Mann, dass also aus der Zurück-zur-Natur-Assoziation eine Adam-und-Eva-Assoziation geworden ist. Alles auf Anfang, wenn man so will.

Überhaupt der dritte Aufzug: Dieser eigenartig uneinleuchtende Weg vom Karfreitagszauber mit seinen idyllisch ekstatischen Klängen, der Inthronisation Parsifals und der Taufe Kundrys hin zur Totenfeier für Titurel, diesen grausamen alten Mann, der seinen Sohn Amfortas gnadenlos hat leiden lassen, damit er selbst möglichst lange leben konnte. Dieser Schwenk zurück in die Düsternis bekommt durch die Öffnung der gesamten Bühne und den ruhigen, kraftvollen Sieg des Lichts quasi rückwirkend seine Schlüssigkeit.

Ganz sicher aber ist es ein Verdienst von Semyon Bychkovs ausgesprochen plastischer Orchesterleitung und der Solisten, dass dieser "Parsifal" so bejubelt wird. Allen voran Günther Groissböck als Gurnemanz: Wucht und Tiefe eines makellosen Basses kombiniert mit der leicht verblichenen Grandezza vergangener Zeiten und nicht zuletzt perfekter Textverständlichkeit. Dazu Elena Pankratovas zutiefst anrührende Kundry und Andreas Schagers überwältigender Parsifal, der nun – anders als sein Vorgänger Klaus Florian Vogt im Premierenjahr – eine dramatische persönliche Entwicklung durchlaufen darf. 

Mathias Wiedemann, Mainpost, 08.08.2019

Wagnerfestspiele 2019 - Bayreuther "Parsifal" begeistert das Publikum

Es ist das dritte Jahr für Uwe Eric Laufenbergs "Parsifal"-Inszenierung. Das verschärfte Sicherheitskonzept – mit Anti-Terror-Zaun und Polizisten – ist längst Routine. Nichtsdestotrotz sorgt die Neuinterpretation von Wagners letzter Oper für Begeisterung.

Mit einem stürmisch gefeierten "Parsifal" sind die Bayreuther Festspiele am Dienstag fortgesetzt worden. Die 2016 von Regisseur Uwe Eric Laufenberg auf die Bühne des Festspielhauses gebrachte Inszenierung stellt die Bedeutung von Religionsausübung grundsätzlich in Frage. Am sinnbildlichsten wird dies am Ende der über vierstündigen Oper, wenn die Vertreter der Weltreligionen die Symbole ihres Glaubens in den Sarg legen.

Von den Sängern wurden vor allem Günther Groissböck als überragender Gurnemanz, Elena Pankratova als ihre Rolle dramatisch gestaltende Kundry und Andreas Schager in der Titelpartie vom Publikum gefeiert. Auch Derek Welton als Klingsor, Ryan McKinny in der Rolle des Amfortas und Wilhelm Schwinghammer als Titurel überzeugten. Frenetisch gefeiert wurde zudem Dirigent Semyon Bychkov. Wie immer in Topform präsentierten sich Chor und Orchester der Festspiele.

dpa, 31.07.2019

Freude am Detail - "Parsifal" bei den Bayreuther Festspielen

Uwe Eric Laufenbergs Inszenierung des "Parsifal" erzählt auch im dritten Jahr konkret von Christen inmitten islamischer Umgebung. Sie haben sich in einen von Soldaten bewachten verfallenen Tempel (Bühne: Gisbert Jäkel) zurückgezogen; am Ende fordern schutzsuchende Männer aus dem Volk an der Seite der Gralsritter den greisen Amfortas aggressiv auf, ein letztes Mal den Gral zu enthüllen. Mit Parsifals Rückkehr und dem zum Kreuz gefügten Speer lösen sich die Begrenzungen des Tempels auf und zum "höchsten Erglühen" des Grals beginnen magisch die Saal-Lampen des Festspielhauses immer heller zu leuchten. Da bekommt die Gattungsbezeichnung "Bühnenweihfestspiel" einen konkreten Sinn.

Nach dem szenisch so indifferenten "Lohengrin" tags zuvor ist man trotz mancher Überzeichnung und Entgleisung (Nackedeis unter Tropenregen zum Karfreitagsszauber) froh über eine detailfreudige Inszenierung, die etwa die rituellen Handlungen zwischen Kundry und Parsifal im dritten Aufzug mit Zärtlichkeit und Wärme auflädt, was Andreas Schager und Elena Pankratova nach den exzessiv sinnlich gesungenen Szenen im Zaubergarten - hier ein verführerischer Hamam mit Haremsdamen - ergreifend spielen.

Da spukt auch Amfortas, den Kundry hier einst verführte, leibhaftig herum: Thomas J. Mayer gestaltet ihn mit virilem Bariton großartig als Christus-Double, dem man das Blut für den Gralskelch, aus dem alle trinken, förmlich aus dem Leib schneidet. Als Klingsor weniger dämonisch, vielmehr mit schönem Bariton vital auftrumpfend ist Derek Welton. Günther Groissböck vermag seinen souveränen, mächtigen Bass für die langen Erzählungen facettenreich einzusetzen. Unter Semyon Bychkov klingt dank fließender Tempi und reich abgetönter Klangfarben schon das Vorspiel berückend. Nie lässt später die Spannung nach, selbst wenn Bychkov in der ersten Gralsszene und während der Karfreitagsszene raffiniert gedehnte Tempi wagt.

Klaus Kalchschmid, Süddeutsche Zeitung, 27.07.2018

Auch die Liebe bringt nicht wirklich Erlösung

[...] Wagner bleibt da sehr offen, kirchliche Rituale spielen eine ebenso wichtige Rolle wie ihre Überwindung. Laufenberg und sein Bühnenbildner Gisbert Jäkel setzen auf inter-, trans- und suprareligiöse Bilder, auf Dauer wie zum Selbstzweck einer funktionierenden Bühnenmaschinerie.

Der Kern des Unheils liegt leider bei Wagner selbst, der die Welthemisphären in eine christliche und eine arabische Hälfte einteilt. Die erste als Ort strenger männlicher, kulturprotestantischer Rituale, die zweite als weiblich bestimmter Ort verlockender Lüste, Märchen wie aus 1001 Nacht. Nicht jedoch Bürgerkrieg, Islamismus und verschleierte Frauen, wie es hier gezeigt wird. Schwerbewaffnete Soldaten (Kostüme: Jessica Karge) patrouillieren durch die beschädigte Kirche von Mossul, ikonografische Flüchtlingsszenarien werden gezeigt, das tote Kind am Strand (anstelle des von Parsifal erlegten Schwans), Szenen aus der Kölner Silvesternacht, bis zum Schluss Vertreter der Weltreligionen, in utopischem Frieden geeint, ihre Kultgegenstände im Sarg Titurels (Tobias Kehrer) niederlegen. Erlösung als Multikulti. Vermutlich wissen die männlichen Kartenanbieter vor der Tür nicht, dass ihnen in diesem „Parsifal“ auch viele Gelegenheiten geboten werden, das Opernglas scharf zu stellen.

Im zweiten Aufzug tauschen die Blumenmädchen den Schador flugs gegen den Bikini ein, um Parsifal im islamdekorgekachelten Bad handfest zu umgarnen. Im dritten Aufzug gönnen „der erlöste Mensch, die sündige Natur“, so heißt es in Gurnemanz’ (unermüdlich präsent: Günther Groissböck) Fazit, in Gestalt entkleideter Mädchen und Jungen sich und dem Publikum eine ausgiebige Dusche in „des Sünders Reuetränen“. Ein gewagter Kontrast nach der Szene im Altersheim, wo eine gealterte und zittrige Kundry die Bühne zu entrümpeln und den Kühlschrank zu befüllen versucht und dabei sogar einen toten Hasen zu entsorgen scheint, das Leitbild des Schlingensiefschen „Parsifal“.

Einen bedenkenswerten Aspekt in Laufenbergs Bilderflut bietet die Rolle des Amfortas (Thomas J. Meyer), jenes Königs, der die Gralsritter anführt, es aber einst mit der Keuschheit nicht so ernst nahm. Die Ritter akzeptieren es nicht, an sein Dahinsiechen gebunden zu sein. Sie fordern, zum Schluss sehr aggressiv (einmal mehr wirkungsvoll: die von Eberhard einstudierten Chöre), Kraft aus dem Gral schöpfen zu dürfen. So inszeniert sich Amfortas selbst als Erlöser, spielt die Kreuzigung Christi nach, lässt sich noch einmal selbst die Wunde beibringen, ein blutiges Ritual, das den zuschauenden Parsifal würgt.

Zum Kreuz gebunden
Überraschend tritt Amfortas auch im zweiten Akt auf, ein stummer Zeuge und Mahner, der noch einmal, es kann ja nichts mehr passieren, Kundrys Hingabe genießt, während Klingsor (markant: Derek Welton) für jeden gefallenen Gralsritter ein Kruzifix aufhängt. Trost und Rettung allein bringt die heilige Lanze. Parsifal zerbricht sie in zwei Stücke und bindet sie zum Kreuz zusammen. Der Kreuzzug kann beginnen.

Andreas Bomba, Frankfurter Neue Presse, 29.07.2018

Bauchtänzerinnen für Parsifal

[...] Wenn man den neuen, vollkommen apolitischen Bayreuther "Lohengrin" erlebt hat, der ja laut Wagner recht eigentlich in Zeiten des Säbelrasselns zwischen Ost und West spielt, ist man schon froh, wenn der zwei Jahre alte "Parsifal" zumindest nach sechs Stunden, zum Finale, eine gesellschaftspolitische Aussage von möglicher Relevanz wagt. Da nämlich wird mit Titurel im Sarg auch der Devotionalien-, Liturgie- und Kirchenspolien-Plunder entsorgt, der zuvor seinen Auftritt hatte. Ihn braucht’s nicht mehr, er hat ebenso ausgedient wie die Gralsgemeinschaft, die sich auflöst und mit den Gläubigen in alle Himmelsrichtungen verstreut – getreu einem Motto der Produktion: „Ich denke an manchen Tagen, dass es besser wäre, wenn wir keine Religionen mehr hätten“ (Dalai Lama).

Diesen Gedanken bei dem Bühnenweihfestspiel und Hochamt „Parsifal“ zu illustrieren, hat etwas Provokantes und mag manchen auf dem Grünen Hügel in solche oder solche Erregung versetzen. Aber bis es dazu kommt, müssen erst mal weite Strecken an anderen Geschehnissen überwunden werden: Bis an die Zähne bewaffnetes Militär auf der Suche nach IS-Terroristen sowohl unter dem Kuppelbau der flüchtlingsfreundlichen Gralsbrüderschaft als auch bei dem muslimischen Klingsor, seines Zeichens Sammler von christlichen Kirchenschätzen wie Kruzifixe und eben Speer. Sollten Söder einmal die Kreuze ausgehen für Bayerns Stuben – hier wird er fündig. [...]

Rüdiger Heinze, Augsburger Allgemeine, 28.07.2018

Bayreuth: Betörende Klänge voller Mystik

Der junge Gustav Mahler schrieb nach seinem Besuch der Bayreuther Aufführung des „Parsifal“ im Juli 1883 tief bewegt an seinen Freund Fritz Löhr: „Als ich, keines Wortes fähig, aus dem Festspielhaus hinaustrat, da wusste ich, dass mir das Größte, Schmerzlichste aufgegangen war und dass ich es unentweiht mit mir durch mein Leben tragen werde.“ Das wird der moderne Mensch 2018 nicht mehr ganz so empfinden, dennoch gelingen Semyon Bychkov am Pult und dem Sängerensemble in der Inszenierung von Uwe Eric Laufenberg Momente der Gänsehaut und der Entrückung.

Im dritten Jahr ist die Personenregie verfeinert. Der Opernchor bewegt sich zielgerichtet und pünktlich um das große Gralsgefäß, Stillstand geschieht nur selten, allein das ist schon außerordentlich bemerkenswert. Semyon Bychkov betört das Publikum aus dem Orchestergraben heraus – mit Hilfe der phänomenalen Akustik – mit schwebenden Klängen, breitgefächert, ohne Hetze.

Spielort in zerstörter Kirche

Da wird das Bühnenweihefestspiel, wie es der Komponist benannt hat, exzessiv zelebriert. Man ertappt sich dabei, der Faszination dieses überhöhten Religionsgeschwurbels zu erliegen. Auch deshalb, weil Laufenberg – zumindest was die Szenerie anbelangt – nicht allzu viel abstrahiert. Der Spielort in einer zerstörten Kirche irgendwo in den verwüsteten Kriegsschauplätzen des heutigen Nahen Ostens ist real und nachvollziehbar. Ein Bettenlager mit gestrandeten Flüchtlingen füllt die Ruine, ehe die Flüchtlinge von hereinstürmenden Soldaten vertrieben werden. Grals- und Karfreitagsmystik werden ausgiebig inszeniert, alle Register sind dabei gezogen, um der großen religiösen Theatralik gerecht zu werden. Eingefleischte Wagnerianer werden es lieben, wenngleich Symbolik und mythologische Stoffe wahllos durcheinander gewürfelt sind und Fragen offenlassen. Aber was wäre schon Logik in einer solchen Oper?

Zudem ist die Besetzung vom Feinsten: Günther Groissböck gibt einen kraftvollen Gurnemanz, mit Nickelbrille wirkt er aus der Ferne jedoch oft unfreiwillig komisch. Andreas Schager ist einmal mehr ein überzeugender Parsifal, nimmt der Rolle die Naivität. Thomas J. Mayer zeigt einen gebrochenen, leidgeplagten, aber immer noch zur Wut fähigen Amfortas, mit Dornenkrone auf dem Haupt, dessen nicht heilende Wunde in einer eucharistischen Handlung angezapft wird.

Gigantischer Zoom ins Weltall

Derek Welton ist ein hasserfüllter Klingsor mit außergewöhnlicher Stimmführung. Elena Pankratova füllt die Rolle der Kundry differenziert und vielschichtig, im Zusammenspiel mit Schager gehört ihr der zweite Akt.

Videoprojektionen dürfen natürlich auch nicht fehlen – und so begibt man sich aus der Kirche mit einem gigantischen Zoom hinaus ins Weltall, umkreist erst die Planeten unseres Sonnensystems, bis ein Schwenk durch die Galaxis wieder durch das Dach der Kirchenruine führt und den Zuseher möglicherweise mit der Erkenntnis zurücklässt, dass die Zusammenhänge weit über unseren Horizont gehen. [...]

Andreas Meixner, Mittelbayerische , 28.07.2018

Viel Licht

Der "Parsifal" ist das dem Festspielhaus angemessenste Werk - der Grüne Hügel ist also sozusagen ganz bei sich, wenn es erklingt. In der positiven Hitliste der für das Haus geeigneten Werke steht es unbestritten auf dem ersten Platz. Bei der Premiere von Uwe Eric Laufenbergs Expedition in den Nahen Osten 2016 hatte sich Andris Nelsons die Chance entgehen lassen, das Ausnahmephänomen "Haus-für-ein-Werk" für sich zu überprüfen. So kam Hartmut Haenchen zu seinem (so überfälligen wie verspäteten) Hügeldebüt.

In diesem Jahr hat der Russe Semion Bychkov, der heuer auch in Wien etwa beim Jugendstil-Parsifal von Alvis Hermanis am Pult steht, im verdeckten Graben übernommen. Und überzeugt! Was auf der Bühne an szenischer Ambition in handfestem Theater mündet, beglaubigt er mit Energiedichte.

Was aber den Raum erfüllt, wirkt dennoch verdichtet, aufgeladen, wie aus einem Guss. Und bereitet vor allem dem Parsifal Andreas Schager und der Kundry Elena Pankratova den Boden für emotionale Ausbrüche. [...]

Ein ebensolcher Glücksfall ist die Hügel-Wanderschaft des deutschen Baritons Thomas Johannes Mayer vom Telramund über den Holländer und Wanderer zum leidenden Graskönig Amfortas. Den rückt er jetzt mit aller Empathie stimmlich eindrucksvoll (in dieser Inszenierung ja auch mit vollem Körpereinsatz) ins rechte Licht. Derek Welton komplettiert diese Spitzenbesetzung als verzweifelt und entschlossen suchender Klingsor überzeugend. Dazu kommen die Schar der Gralshüter, Knappen und Zaubermädchen und die fabelhaft von Eberhard Friedrich einstudierten Chöre. Die Umbesetzungen funktionieren, weil ein Regisseur wie Laufenberg vor Ort ist und seine Interpretation frisch hält. Das provozierende Potenzial seiner Pointe, in der sozusagen das Licht der Aufklärung (das den Zuschauerraum am Ende tatsächlich flutet) zumindest die Möglichkeit einer Emanzipation der Menschheit von der Unterordnung unters Göttliche andeutet, führt zu ein paar pflichtschuldigen Buhs. Ansonsten: Jubel.

Joachim Lange, Wiener Zeitung, 27.07.2018

Ein wirklich heldischer Tenor: "Parsifal"

In einem der stärksten Momente dieser Bayreuther Inszenierung von Uwe Eric Laufenberg wohnt Parsifal dem grausamen Blutritual bei, dem der verzweifelte Amfortas sich auf Druck der religiösen Gemeinschaft unterziehen muss. Parsifal ist da noch förmlich ein Kind im Körper eines Erwachsenen, das sich in eine Ecke kauert und versucht, möglichst wenig von alledem mitzubekommen. Offenkundig wird Parsifal durch das unbeschreibliche Leid des Amfortas schwer traumatisiert.

Es ist ein Glücksfall, dass Andreas Schager in der Titelrolle dieses Trauma bis zum Schluss mitschwingen lassen kann. Der Österreicher ist eine idealtypische Besetzung für diese gefürchtete Rolle, übrigens auch äußerlich. Seinen hellen Tenor kann man nun wirklich einmal heldisch nennen, aber zugleich ist das Organ so schön timbriert, dass man jenseits aller bloßen Bewältigung auch gerne zuhört.

Dr. Michael Bastian Weiß, idowa, 02.08.2018

BAYREUTH
Auf Bayreuth-Regisseuren lastet viel Erwartungsdruck. Katharina Wagner löst diesen ein, wenn sie „Tristan und Isolde“ in Angsträume versetzt

Weltweit gibt es keine Inszenierungen, die so viel Beachtung erfahren und so intensiv diskutiert werden wie die Bayreuther Produktionen. Das erzeugt Erwartungsdruck. Sinnlich sollen sie sein, die Wagner-Deutungen auf dem Grünen Hügel, aber gleichzeitig neue Erkenntnis-Ansätze liefern und vor allem den „Sense of Wonder“ bedienen, die Sehnsucht nach dem Überraschenden, noch nie Dagewesenen, Wunderbaren.

Bei so viel Ansprüchen sind Enttäuschungen prädestiniert, zumal Festspielleiterin Katharina Wagner Wert darauf legt, möglichst unterschiedliche zeitgenössische Regie-Handschriften im Festspielhaus zu präsentieren. Allerdings scheint es immer schwieriger zu werden, Künstler zu finden, die Wagners Geschichten gegen den Strich lesen können und die gleichzeitig über die handwerkliche Kompetenz verfügen, ihre Konzepte auf der riesigen Bayreuther Bühne umzusetzen. [...]

„Parsifal“-Regisseur Uwe Eric Laufenberg thematisiert die Geschichte im Kontext der Erlösungsmotivik des Christentums. Amfortas leidet fürchterliche Qualen, damit die Gralsbrüder länger leben können; Eigensucht sticht Mitleid aus. Allerdings gerät die Regie im zweiten und dritten Akt in die Falle schwüler Katholizismus-Bilder. Dafür haben sich die Sänger aber wunderbar in ihre Partien eingearbeitet: Andreas Schager als jungenhafter Parsifal mit heldischem Tenor, der auch weiche Töne findet; Günther Groissböck als Gurnemanz mit schwerem Bass, Derek Welton als geschmeidig-gefährlicher Klingsor und allen voran Elena Pankratova, die als Kundry stimmlich und darstellerisch das ganze Universum des Frauseins zwischen Opfer und Täterin durchmisst. Semyon Bychkov dirigiert die Partitur wie Schöpfungsmusik.

Wagners Opern sind lang und komplex. Entsprechend braucht man bei guten Inszenierungen mehrere Durchgänge, um sie zu entschlüsseln. Auch die Sänger benötigen eigentlich mehrere Runden, um sich in ihre Partien zu finden. [...]

Monika Willer, Westfalenpost, 31.07.2018

Es ist die von den Feuilletons eher geschmähte „Parsifal“-Inszenierung von Uwe Eric Laufenberg, die am deutlichsten Wagners Gesellschaftsutopie umsetzt. Das Nacktbaden im Regenwald der Karfreitagsaue befreit die schuldbeladenen zu fürsorglichen Menschen. Die Insignien verschiedenster Religionen werden im Sarg des Gralskönigs versenkt, sie haben ausgedient, sobald der innere Gehalt von Religion gelebt wird: die Nächstenliebe.

Vielleicht gerät das Schlussbild der vereinten Nationen und Generationen etwas kirchentagsmäßig, aber es erdet Wagners sublime Festspielchöre sinnhaft. Andreas Schager singt Parsifal, den Enthüller solchen Gralssinns, mit natürlich frischem Tenor, Elena Pankratova ist eine Kundry von sinnlich-glänzender Stimmfülle und Georg Zeppenfeld als Gurnemanz ein in Basskraft wohlartikuliert zupackender Wegweiser seiner Gemeinde. Viel Applaus auch hier. Wagners Festspiele haben funktioniert. Der Skandal wartet in der Wirklichkeit.

Andreas Berger, Braunschweiger Zeitung, 29.08.2017

Bayreuth: „Parsifal“ in Bayreuth

„Nichts mit Waldlichtung und Zaubergarten: Der aktuelle „Parsifal“ spielt sich meist in einer halb zerschossenen Kirche irgendwo im Nahen Osten ab. Im Zeitalter des Terrors von Gotteskriegern, so das Konzept des Regisseurs Uwe Eric Laufenberg, lässt sich die Geschichte der Gralsritter nicht mehr nur als realitätsfern-mystisches Brimborium erzählen. Bei solchen Regie-Ideen empört sich die Hardcore-Fraktion der Wagnerianer normalerweise lautstark. Doch, oh Wunder, viele Erbwächter auf dem Grünen Hügel sind – wie Parsifal mit Wagners Worten – „welthellsichtig“ geworden: Das Publikum feierte den runderneuerten Nahost-„Parsifal“.

Die Festspielgemeinde hat mit Wagners letzter Oper ja schon Vieles durchgemacht: Unvergessen Christoph Schlingensiefs Voodoo-Version, auch Stefan Herheims historisch komplexe Lesart setzte Maßstäbe. Nun also Laufenberg: Es scheint, als ob er seine Inszenierung für die zweite Auflage ein wenig entrümpelt hat. Trotz zwei zentraler Umbesetzungen funktioniert die Sache: Andreas Schager als neuer Parsifal geht, auch wenn er zuweilen presst, viel expressiver, heldentenoraler zur Sache als Vorgänger Klaus Florian Vogt.

Nach dem Tod von Gerd Grochowski musste auch der Klingsor neu besetzt werden, den Derek Welton von der Deutschen Oper Berlin mit markantem Bassbariton solide meistert. Ganz zu schweigen von Laufenbergs Stamm-¬Crew. Elena Pankratova etwa: Der russischen Sopranistin gelingt das Kunststück, alle Wandlungen – von der femme fatale bis zur demütigen Dienerin – stimmlich und schauspielerisch stark über die Rampe zu bringen. Nicht zu vergessen: Ryan McKinny (Amfortas) berührt mit dringlicher Intensität, Georg Zeppenfeld (Gurnemanz) beeindruckt als stimmgewaltiger Erzähler.

In sich schlüssig
Die Inszenierung fährt Einiges auf: Der Held wird von Harems¬damen im Hamam-Planschbecken verführt, zwischendrin ¬beamt uns die Regie von der syrisch-irakischen Grenzregion ins Weltall, und Parsifal taucht auch schon mal im Ninja-Kostüm auf. Dennoch: Die religionskritische Friedensbotschaft am Schluss – wenn Christen, Juden, Muslime und Buddhisten ihre Glaubenssymbole ablegen und in einen Sarg betten – wirkt streitbar und in sich schlüssig.

Glänzend vor allem Hartmut Haenchen am Pult: Sein farbenprächtiger Sound – übrigens fast so zügig wie Rekordhalter Pierre Boulez - ist umwerfend. Bittersüße Chromatik, grandioser Grals-Glockenklang, betörender Karfreitagszauber. Großer Jubel.“

Otto Paul Burkhardt, Südwest Presse, 29.07.2017

Wagners Parsifal bewegt und berührt
Das Bühnenweihfestspiel in Bayreuth stimmt die Zuschauer nachdenklich. Die Rollen wurden mit glücklichster Hand neu besetzt.

„Bayreuth. Dieser Weg war kein leichter, er war steinig und schwer. Da gehen 2016 bei der neu aufzulegenden Parsifal-Inszenierung erst der Regisseur, dann der Dirigent von der Fahne. Dem Neuen, Uwe Eric Laufenberg, blieb nicht übermäßig viel, dem freilich Parsifal-erfahrenen Dirigenten Hartmut Haenchen gar bedenklich wenig Vorbereitungszeit. Und als ein Jahr vergangen war, hat man nachjustiert, nachgeschärft und die zwei großen Rollen Parsifal und Klingsor (wegen eines Todesfalls) mit glücklichster Hand neu besetzt. Kein Wunder, dass schon nach dem packenden zweiten Akt der erste Applaussturm durch das Festspielhaus fegt, er kehrt nach dem dritten als Buh-freier Orkan wieder.

Zurück zu den Ursprüngen
Anders als Stefan Herheim (dieser hatte 2008 den Stoff vieldimensional mit der Geschichte Deutschlands und der Wagners verwoben) wählte Laufenberg einen naturalistischeren, konventionelleren Weg. Er lokalisiert Montsalvat im Nahen Osten, der Wiege der Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam.
Ein Videozoom im Stil von Google Earth – besser Google Space – gemahnt an Schiller: „Brüder, über’m Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen“. Die Burgkapelle der Gralshüter ist beschädigt, ihre Glaubensgemeinschaft ist bedroht. Immer wieder patrouillieren und sichern Soldaten, sie scheinen wie von der US Army im benachbarten Grafenwöhr abgeordnet. Das Zauberschloss erscheint als ein im orientalischen Stil blau gekacheltes Hamam über dem Klingsor seinem Kreuze-Fetisch frönt. Er agiert auch mal unselig als Flagellant.
Im dritten Akt sind wir wieder in der von Pflanzen überwucherten Kirche, sie öffnet sich zum Karfreitagswunder, das von glücklich tänzelnden Evas in einer FKK-Urwald-Regendusche gefeiert wird – die Kitsch-Grenze kommt in Sichtweite.

Grandiose Solisten
Wie 2016 gibt Georg Zeppenfeld den souveränen, geradlinigen, weisen Ritter-Chef Gurnemanz. Sonor und geerdet seine unangestrengte Stimme, glasklar die Artikulation, suggestiv seine Erzählkunst. Sie geht auch nicht verloren, wenn er später gealtert im Rollstuhl sitzt. Einspringer Günther Groissböck singt den körperlich gebrochenen, aber seelisch starken Titurel. Ryan McKinny verkörpert zwingend den leidenden Amfortas mit Dornenkrone und Stigmata, stimmlich trägt er etwas zu viel Vibrato auf.“

Peter K. Donhauser, Mittelbayerische Zeitung, 28.07.2017

Jubel, Kreuze und ein Rätsel: Richard Wagners Oper "Parsifal" in der Inszenierung von Uwe Eric Laufenberg geht bei den diesjährigen Bayreuther Festspielen in die zweite Runde. Nach der Premiere 2016 war das Spätwerk des Komponisten am Donnerstagabend erneut zu sehen.

Diese Oper, die Wagner eigens für das Festspielhaus komponiert hatte, war fast auf den Tag genau vor 135 Jahren am 26. Juli 1882 uraufgeführt worden. Die Reaktionen im Jahr 2017: Donnernder Applaus vor allem für die Sänger und die Musiker unter Dirigent Hartmut Haenchen. Wild gerätselt wurde aber über eine Figur auf einem Stuhl, die fast das ganze Stück über reglos hoch über der Gralskirche hinter einem Gitter saß und das Treiben unten zu verfolgen schien.

Die Gralskirche liegt irgendwo in einem Krisengebiet, Naher Osten, Irak, Syrien. Hier wird der heilige Kelch bewahrt, in dem das Blut Jesu nach seiner Kreuzigung aufgefangen worden sein soll. Die Ritter rund um Titurel und später seinen Sohn Amfortas beschützen das Heiligtum, das Begehrlichkeiten weckt, vor allem bei Klingsor. Um an die Reliquie zu kommen, ist ihm jedes Mittel recht, Waffen ebenso wie List und Verführung. Vor allem auf Parsifal hat es der abtrünnige Ritter abgesehen. Der "reine Tor" soll seine Keuschheit verlieren und der sexuellen Begierde erliegen. Hilfe erhofft sich Klingsor dabei von der Gralsbotin Kundry.

Laufenberg hat seine Inszenierung mit jeder Menge religiöser Symbolik aufgeladen, deren Sinn nicht immer auf den ersten Blick klar wird. Der Beginn erinnert an ein Kirchenasyl. Flüchtlinge schlafen unter bunten Decken auf Feldbetten. Als die Gralsritter dort ihre Riten vollziehen wollen, werden die Schlafenden geweckt und müssen gehen, die Liegen unterm Arm. Ein menschengroßer Corpus Christi wird vom Kreuz abgenommen, in Tücher gewickelt, wieder angehängt und erneut heruntergenommen. Schwer bewaffnete Soldaten tauchen in regelmäßigen Abständen auf und durchsuchen alles, Maschinengewehre im Anschlag. Später wird Amfortas, der Gralsherr, mit Dornenkrone und mit den Wunden Jesu stigmatisiert auf einem runden Altar in seinem Blut liegend, während im Hintergrund der Gral schimmert.

Klingsor (gespielt von Derek Walton) erscheint im zweiten Aufzug als Kreuzfanatiker, bei dem die Wände seiner Kammer über und über mit Kruzifixen behängt sind, darunter auch eines, dessen Griff wie ein Phallus geformt ist. Symbol für männliche Dominanz im Christentum? Wie von einem Balkon blickt Klingsor in ein Hamam mit verschleierten Frauen, die sich später in sinnenfreudige Blumenmädchen verwandeln. Sie sollen Parsifal verführen. Doch Kundry verjagt sie und erzählt dem verstörten jungen Mann von seiner Mutter - einer der Höhepunkte der Oper, innig und gefühlvoll gesungen von der Sopranistin Elena Pankratova als Kundry und dem Heldentenor Andreas Schager in der Titelpartie des Parsifal. Donnernder Applaus für die beiden, ebenso wie für den Bass Georg Zeppenfeld, der als Gurnemanz alles daran setzt, Amfortas (Ryan McKinny) zu retten.

Am Ende bleibt von den ganzen Kreuzen nicht mehr viel übrig. Juden, Muslime, Buddhisten und Christen, alle legen ihre religiösen Symbole in einen Sarg. Das Göttliche, so scheint es, ist ganz anders, als es sich die Menschen so vorstellen und vielleicht sieht es so aus wie die merkwürdige Puppe, die oberhalb der Bühne hockt. Kein weißer Mann mit langem Bart, sondern eine gesichtslose Frau im grünlichen Anstaltsanzug, eine beständige Präsenz, die Rätsel aufgibt.

Erst wenn alles Religiöse beseitigt ist, gibt es die Erleuchtung. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn auch im Zuschauerraum mit seinen hölzernen Klappstühlen geht noch während der Schlussszene langsam das Licht an.

dpa, Bayreuth, 28.07.2017

In Bayreuth wird die Wiederaufnahme des "Parsifal" bejubelt.

Wagners "Parsifal" ist für das Bayreuther Festspielhaus maßgeschneidert. Hier, auf dem Grünen Hügel, liegt die Spielstätte für diese Oper, hier wurde sie 1882 uraufgeführt. Man versteht warum, wenn man sich in der aktuellen Spielserie der Festspiele dem Orchester im verdeckten Graben unter Hartmut Haenchen ausliefert. Haenchen ist eine jener Glücksfall-Personalien, die es in Bayreuth öfter gibt. Schon im Vorjahr hat der Dirigent hier den "Parsifal" geleitet und sprang für Andris Nelsons ein, der der damaligen Premiere während der Probenzeit abhandengekommen ist. Haenchen, 1943 geboren, stand lange Zeit an Orten wie Amsterdam oder Paris höher im Kurs als daheim. Dabei hätte der ausgewiesene Wagner-Könner schon viel früher nach Bayreuth gehört.

Erst ein Retter in der Not, ist er heuer ganz bei sich, dem Stück und in dessen idealem Raum angekommen. Mit einer Stunde vierzig für den ersten Aufzug erweist sich die Gangart als eher zügig denn weihevoll. Und dann wird bei der zweiten Gralsenthüllung doch der Raum mit aller Klangpracht ausgefüllt, ohne dass es ins Lärmen kippt: grandios!

Eine Idealbesetzung

Dazu die Besetzung: von wegen Krise des Wagner-Gesangs oder Fehlbesetzungen auf dem Grünen Hügel. Besser als in diesem Jahr geht es kaum. Wenn aus dem Parsifal Andreas Schager das "Amfortas! Die Wunde!" herausbricht, geht einem das durch Mark und Bein - wobei der Aufschrei immer noch Gesang bleibt. Die Stimme des österreichischen Tenors besitzt enorme Strahlkraft (mit Betonung auf beiden Silben) und zunehmend auch die gestalterische Leidenssubstanz, die es für einen überzeugenden und berührenden Parsifal braucht. Dazu kommt, dass er sich wie ein Mensch auf der Bühne bewegen kann. Georg Zeppenfeld ist als Gurnemanz längst eine Klasse für sich, Elena Pankratova eine glutvoll verführerische und leidende Kundry der Extraklasse. Dazu Ryan McKinny als Amfortas, Derek Welton als Klingsor und Günther Groissböck als Luxus-Einspringer in der Rolle des Titurel. Was sollte da - und wo - besser zu machen sein?

Bei der Wiederbegegnung mit der Inszenierung von Theater-Routinier Uwe Eric Laufenberg erweisen sich deren Vorzüge als deutlich gewichtiger als die Einwände. Den notorischen Kunstprovokateur Jonathan Meese hatte man in Bayreuth ja dann doch nicht riskiert. Dafür hat Wien jetzt Meeses "Parsifal"-Expedition genießen (beziehungsweise aushalten) dürfen. In Bayreuth ist Laufenberg, Intendant des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden, zu einer Reise in einen Kirchenraum im Nahen Osten aufgebrochen: Es geht ins Hamam und dann ins Paradies, am Ende kommt man im Zuschauerraum bei einer Kritik des hellen Lichtes der Vernunft an allen Religionen an - auch mit nackten Tatsachen. Ein zelebriertes Bühnenweihfestspiel ist das nicht, sondern ein handfestes Theater, das zu packen versteht. Auch dafür gab es überwiegend Zustimmung.

Joachim Lange, Wiener Zeitung, 28.07.2017

Mitten ins Fleisch: Uwe Eric Laufenbergs „Parsifal“ geht mit den großen Weltreligionen ins Gericht

Ein „Parsifal“ auf dem Grünen Hügel bedeutet für den Zuhörer gute sechs Stunden Musiktheater. In Bayreuth, so hatte es Wagner bei den ersten Festspielen 1876 verfügt, dauern die Pausen zwischen den Akten nämlich eine Stunde, damit den Besuchern ausreichend Zeit bleibt, sich von den harten Holzbänken im Festspielhaus zu erholen. Über die gepfefferten Preise der Festspielgastronomie sei an dieser Stelle kein Wort verloren.

Der Operngenuss mittels Livestream oder Kinoübertragung bietet in dieser Hinsicht zumindest einige Annehmlichkeiten. Wenngleich der Musikgenuss an historischer Stätte natürlich durch nichts zu ersetzen ist, lässt sich mittels HD-Fernseher und Hifi-Anlage im heimischen Wohnzimmer zumindest ein bisschen Bayreuth-Feeling erzeugen. Fenster zu, Rolläden runter, Ventilator oder Klimaanlage aus, und schon lässt sich an einem schwülen Montag wie im Festspielhaus schwitzen.

So ließe sich der neue Bayreuther Parsifal plakativ überschreiben. Uwe Eric Laufenberg offeriert dem Publikum einen „Parsifal“, der nicht nur einen neuen Blick auf den Klassiker eröffnet. Der Regisseur versäumt bei allen inszenatorischen Kunstgriffen nicht, den Kern der Geschichte, insbesondere das vertrackte Beziehungsgeflecht zwischen Parsifal, Kundry, Amfortas und Klingsor, mit spielerischen Mitteln lebendig zu erzählen. Damit steht die Inszenierung in einer Reihe mit Dmitri Tcherniakovs Berliner „Parsifal“, der bei aller Progressivität aber den Boden der Wagner’schen Fabel kaum verlässt.

Laufenberg dagegen erzählt nicht bloß die Handlung in modernen Bildern nach, sondern artikuliert inszenatorisch eine scharfzüngige Religionskritik, wie sie in dieser unmittelbaren Form in der Parsifal-Deutung bisher nicht zu sehen gewesen ist. Er stellt unter ästhetischen Verweisen auf Wagners Bühnenreligion und den Auseinandersetzungen des Komponisten mit Christentum, Buddhismus und Hinduismus, die sich nicht zuletzt in der sich wandelnden Figur Kundry widerspiegeln, das philosophische wie soziale Gesamtkonstrukt „Religion“ infrage. Religion versetzt Menschen in Abhängigkeiten. Religion kann schmerzen. Religion verursacht Kriege. Religion tötet.

Laufenbergs „Parsifal“, der 1881 in Bayreuth uraufgeführt wurde, spielt im Hier und Heute. Geografisch verordnet der Regisseur den Schauplatz ins Dreistromland, direkt an die Wiege des Christentums. Der Intendant des Staatstheaters Wiesbaden setzt sich wie kaum ein Parsifal-Regisseur zuvor mit religiösem Fanatismus auseinander. Dem Regisseur geht es allerdings, anders als im Vorfeld kolportiert, keineswegs um die Kritik an einer bestimmten Religion. Vielmehr beschreibt der Theatermacher, wie dieser Tage Gewalt und Kriege im Namen großer Weltreligionen legitimiert werden.

Ursprünglich wollte Laufenberg den „Parsifal“ bereits im Wagner-Jahr 2013 in Köln inszenieren. Nachdem die dortige Opernleitung seinen Vertrag auflöste, landete die Inszenierung schließlich in Bayreuth. Dort sollte eigentlich Jonathan Meese das Spätwerk inszenieren. Die Vorstellungen des Aktionskünstlers sprengten allerdings den Rahmen des Budgets, so dass Festspielchefin Katharina Wagner den Vertrag im November 2014 kurzerhand aufkündigte.

Ärger gab es auch mit Dirigent Andris Nelsons, der die Premierensaison dirigieren sollte. Angeblich seien es Umbesetzungswünsche Wagners gewesen, die den designierten Gewandhauskapellmeister dazu bewogen haben sollen, Ende Juni das Handtuch zu schmeißen.

Die Festspielleitung verpflichtete daraufhin den Wagner-Routinier Hartmut Haenchen, der unter anderem Romeo Castellucis Parsifal-Inszenierung in Brüssel dirigiert hatte. Dass dem 73-Jährigen nur wenige Orchesterproben zur Verfügung standen, um seine musikalischen Vorstellungen einzustudieren, war am Montag zumindest nicht zu hören.

Das Publikum bekam einen ausgesprochenen runden „Parsifal“ zu hören. Vollmundige sakrale Chöre, bebende Streicher und schmetterndes Blech prägen sich beim Zuhörer schon im ersten Akt als Charakteristika von Haenchens Hügeldebüt ein. Der Maestro legt Wert auf einen erzählenden Sprachfluss. Jeder Satz, jedes Wort ist exakt artikuliert und bestens zu verstehen.

Bemerkenswert (und absolut festspielreif) sind die Leistungen der Solisten einzuordnen. Klaus Florian Vogt singt die Titelpartie mit gewohnter Inbrunst. Der international gefeierte Heldentenor formt Vortrag und Spiel bravourös zu einer Einheit. Georg Zeppenfeld füllt die Gurnemanz-Partie in ungewohnter, jedoch erfrischender Weise mit einem jugendlichen Anstrich aus. Elena Pankratovas Kundry charakterisiert sich durch eine tiefgreifende Intimität im gesanglichen Vortrag aus. Ryan McKinny interpretiert seinen Amfortas mit gewohnter Zuverlässigkeit.

Gisbert Jäkels Bühnenbild zeigt im ersten Akt einen sakral-orientalischen Kuppelbau, in dem der Putz von den Wänden bröckelt. Die Gralsritter tragen lange, weiße Gewänder, wie sie im muslimischen Kulturkreis üblich sind, dort aber auch von Christen getragen werden (Kostüme: Jessica Karge). Schon während des Vorspiels zum ersten Akt durchstreifen Soldaten in grünem Camouflage und mit Maschinengewehren in den Händen die Kirche, an deren Rückwand ein hölzernes Kreuz lehnt. Pünktlich zu Gurnemanz’ Gralserzählung kehren die Soldaten erneut in die sakrale Stätte zurück, um dem Anführer der Gralsritter zu lauschen.

Gurnemanz trägt wie die übrigen Ritter eine klassisch-arabische Kluft, dazu jedoch eine moderne Hornbrille und eine beige Wollmütze. Gralskönig Amfortas ist der eitle TV-Guru amerikanischen Stils im schneeweißen Jesus-Gewand mit Kruzifix um den Hals. Kundry erscheint den Gralsjüngern ganz in schwarz und verschleiert mit Hidschab.

Parsifal wirkt in seinem grauen Kaschmirpullover und dem olivgrünen Hemd darunter wie ein Fremdkörper. Ein Unwissender, ein Ungläubiger, der als ungebetener Gast samt totem Schwan den mystischen Charakter der Szenerie aufbricht. Ob die Frisur des Heldens zufällig oder unzufällig dem Haarschnitt des Schauspielers und Bibelkenners Ben Becker ähnelt, sei dahingestellt.

Erzählt Laufenberg im ersten Teil des ersten Aufzugs noch werkgetreu die Vorgeschichte der Handlung, nimmt die Inszenierung mit Einsetzen der Verwandlungsmusik Fahrt auf. Eine Videoprojektion führt dem Zuschauer vor Augen, dass die Gralsburg, das heilige Land, Arabien, ja die gesamte Welt bestenfalls ein Staubkorn in den unendlichen Weiten des Universums bildet. Amfortas kehrt mit Dornenkrone auf dem Haupt von seinem Bad zurück.

Der Gral ist bei Laufenberg eine Metapher für den Anführer der Gralsgemeinde. Als Amfortas auf Aufforderung seines greisen Vaters Titurel seinen Leib enthüllt, stellt er sich wahlweise als Nacheiferer oder – im buddhistischen oder hinduistischen Sinne – Reinkarnation Jesu Christi heraus. Seinen Oberkörper zieren Narben von Peitschenhieben. Hände und Füße weisen blutige Spuren von Verletzungen mittels Nägeln auf und die Wunde, die der Zauberer Klingsor dem Leidenden zugefügt hat, entpuppt sich als jene Verletzung, die ein römischer Soldat mit der Lanze Jesu am Kreuz zufügte.

Die Abendmahlszene gipfelt den obskuren christlichen Opferkult. Ein Ritter schneidet dem gezeichneten Amfortas, der auf dem Altar stehend von zwei Gehilfen gestützt wird, mit einem Skalpell ins Fleisch, woraufhin dieser aus mehreren Wunden zu bluten beginnt. Titurel fängt das Blut mit einem Weihgefäß auf, welches daraufhin unter den Rittern die Runde macht. Amfortas selbst ist bei Laufenberg der Heilige Gral, an dem sich die Gralsgemeinschaft labt.

Im zweiten Aufzug ist Parsifal zu einem Soldaten mit wallender Haarpracht gereift, der in Uniform und schwer bewaffnet Klingsors Heimstatt erstürmt, um den heiligen Speer zurückzuerobern. Der Zauberer haust in einem orientalischen Hamam, in seinen Ausmessungen nahezu baugleich zur Gralskirche.

Hierher hat Klingsor, der bei Laufenberg zugleich kühl kalkulierender Feldherr und entmannter Verführer sein darf, Amfortas verschleppt. Seine verfluchte Dienerin Kundry, jetzt unverschleiert, erhält den Auftrag, Parsifal zu verführen. Klingsor selbst zieht sich in seine Kommandozentrale zurück, ein Kabinett, dessen Rückwand trophäenhaft Kruzifixe schmücken.

Die Blumenmädchen, die Klingsor Kundry vorschickt, erscheinen in schwarzen muslimischen Gewändern, die sie sich nach Parsifals Ankunft sofort vom Leibe reißen. Zur Erscheinung kommen Bauchtänzerinnen, die viel nackte Haut zur Schau stellen. Ein Verweis auf die Doppelmoral in Bezug auf Nacktheit in der arabischen Kultur. Kundrys verführerischer Kuss öffnet Parsifal die Augen. Klingsor geißelt sich selbst und wird bei dem Versuch, Parsifal mit der geraubten Lanze zu ermorden, von diesem getötet. Die beiden Lanzenstücke zum Kreuz geformt, verlässt Parsifal schließlich die Szenerie und lässt eine verzweifelte Kundry zurück.

Der dritte Aufzug führt die Zuschauer zurück in die Gralskirche, die nur noch eine Ruine ist. Längst hat die Natur von dem Bau Besitz ergriffen. Gurnemanz und Kundry sind nun ein greises Paar. Parsifal tritt als schwarz gekleideter Krieger auf, den Speer zum Kreuz gebunden im Gepäck. Erst beim Karfreitagszauber erwacht die Szenerie zum Leben. Die Gralsruine öffnet sich in der Mitte. Grüne Ranken verschaffen sich ihren Platz. Ein Wasserfall bewässert die Hinterbühne.

Während der Verwandlungsmusik lässt Laufenberg herabstürzende, verschmutzte Wassermassen einblenden, die die Gesichter Amfortas’, Titurels und Kundrys als Repräsentanten religiöser Strömungen hinwegspülen. Titurels Begräbnisfeier stellt sich als Zusammenkunft der Gralsritter mit Gläubigen der großen Weltreligionen dar. Parsifal erscheint als der unerwartete Erlöser, der den verloren geglaubten Lanzenspeer in jenen Holzsarg legt, in dem sich Amfortas’ offenbar rituell den Göttern dieser Welt opfern wollte.

Der Anblick des Speers erlöst die Menschen von der schweren Last ihres Glaubens. Während der bis dato angebetete Amfortas fluchtartig das Weite sucht, legen sie ihre mitgebrachten Opfergaben – etwa Kruzifixe, Kippas und Gebetsteppiche – zum Lanzenspeer in den Sarg. Die Bühne durchflutet weißes Licht. Die Menschen haben ihren Glauben an ihre Religionen abgelegt. Der Chor besingt „höchsten Heiles Wunder“.

In Zeiten von Terror, Flucht und Vertreibung, „Islamischer Staat“ in Nahost und sinnfrei mordenden Djihadis in der westlichen Welt trifft Laufenbergs „Parsifal“ den Zahn der Zeit. Das Premierenpublikum spendete den Mitwirkenden völlig zu Recht bebenden Applaus, der beim Auftritt des Regieteams jedoch von wenigen Buhs durchsetzt war. Die Premiere ist nicht nur für die Mitwirkenden, sondern auch für die Festspielleitung um Katharina Wagner ein Erfolg, deren experimenteller „Tristan“ im Vorjahr am Hügel für gemischte Gefühle gesorgt hatte.

Martin Schöler, Leipziger Volkszeitung, 26.07.2016

A Sublime and Provocative ‘Parsifal’ at Bayreuth

A large security force, with police officers and checkpoints, was present on Monday for the opening of this summer’s Bayreuth Festival, featuring the premiere of a new production of Wagner’s “Parsifal.” This was understandable, given the tensions here in southern Germany after a spate of violent attacks — four in just the last week, at least two of which were perpetrated by individuals claiming ties to radical Islamic groups.

Bayreuth administrators had special cause to be worried. Early news reports suggested that the production, by the German director Uwe Eric Laufenberg, was disrespectful of Muslims. It was rumored that in a scene in Act II, the Flower Maidens under the spell of the demonic sorcerer Klingsor are presented as temptresses in Islamic dress covering skimpy undergarments.

As for the threats the festival is grappling with, the night before “Parsifal” opened, a Syrian refugee who had been denied asylum in Germany was turned away from a music festival in Ansbach, some 70 miles from Bayreuth, and set off a suicide bomb, killing himself and injuring many. This “Parsifal” production, which focuses on what unites us across religious lines, could hardly be more relevant.

This staging is indeed rich with Muslim imagery. But Mr. Laufenberg’s sensitive, visually arresting production offers a searching exploration of Wagner’s complex, often baffling final opera. With an excellent cast, headed by the clarion tenor Klaus Florian Vogt in the title role, and the conductor Hartmut Haenchen drawing radiant sound and striking transparency from the festival orchestra, this was a sublime and provocative “Parsifal.”

In an interview in the program book, Mr. Laufenberg explains that he sees the opera as not exactly religious, but as “pan-religious,” or “post-religious,” a work that goes “beyond religion” and that at the same time “explores the origin of religion.” His production certainly underlines the explicitly Christian elements of an opera that is about a band of knights devoted to the protection of the holy grail, who experience a spiritual crisis as their leader, Amfortas, suffers a mysterious wound. In a daring performance by the American bass-baritone Ryan McKinny, this Amfortas is a handsome man in his 30s who appears during the ritual ceremony of Act I as a stand-in for Christ on the cross, wearing a loincloth and a crown of thorns, dripping blood from the wound on his side that will not heal.

To convey the continuous crisis this community of knights is enduring, Mr. Laufenberg chose to set the story not in the libretto’s Gothic Spain, but in a place where Christianity feels under threat. The knights seem to occupy a battle-torn, crumbling church in the Middle East, in roughly modern times. Soldiers in fatigues with assault weapons keep watch over the knights. The church space is dominated by a huge basin, like a baptismal font, where two of Amfortas’s men take him for a healing bath.

It’s clear that these knights practice charity in their town. At the start of the performance, we see people in need sleeping alongside the knights on cots, even a family with a baby carriage. Mr. Laufenberg’s stage imagery blurs religious distinctions in affecting ways. Wagner’s mysterious Kundry, who serves the knights, is an ageless woman who has suffered for centuries, yearning for redemption. She is also a classic femme fatale. All those qualities come through in the performance of the soprano Elena Pankratova, who brings an alluring blend of cool, gleaming sound and piercing expressivity.

Mr. Laufenberg aptly commented in his interview that no character in Wagner says and knows so much, yet reveals so little of himself, as Gurnemanz, a veteran knight, respected by all. This production boasts the German bass Georg Zeppenfeld, whose voice carries natural heft and authority without a trace of huffiness or posturing. Trim and purposeful, wearing glasses and a simple cap, he exudes patience and understanding, even when exasperated by Parsifal’s denseness.

With his long, fair hair and physical restlessness, Mr. Vogt makes a baffled Parsifal, the young, rootless man who seems to chance upon the community. Is he the prophesied innocent who can redeem the knights by his experience of compassion? Or is he, as Gurnemanz at first concludes, just a fool? Mr. Vogt’s impressive voice is focused and penetrating, yet meltingly tender in soft, high-lying phrases.

For Act II, which takes place in Klingsor’s castle, the set transforms into a vaguely Islamic temple. The twisted Klingsor (the strong bass-baritone Gerd Grochowski), who once tried to be one of the knights, now hates them. But his ambivalence is suggested by the room full of crucifixes that he secretly maintains. His Flower Maidens do appear at first in black robes covering all but their faces. When Parsifal comes into their midst, and they remove those garments, they’re wearing cheesy-looking outfits, like storybook exotic Arabian dancers. Mr. Laufenberg may be inviting us to see the scene as a little ridiculous. Some devotees of Wagner’s score feel that the maidens’ waltzing music of seduction is, by intention, sickly sweet, an interpretation that comes through here.

In Act III, Parsifal, who has spent years wandering and lost, returns to the sanctuary of the knights, where his spiritual transformation is completed through the metaphoric act of baptism. Amfortas, now grown old and wrinkled, is asked to perform the grail ritual for his father, who has died. In this staging, the shaken ruler is turned to not just by his band of Christian knights, but also by Jews wearing prayer shawls and Muslims carrying prayer books.

Mr. Laufenberg skirts cliché with this idea. The scene could have come across like some banal moment of Wagnerian kumbaya. Yet, the choral writing here is a babble of desperate, clamoring voices, a quality enhanced by this powerful concept. The message, it seems, is that everyone is confounded by spiritual issues and that we’re all in this together. At the end, the knights, and all the people in the community, wander off into a misty distance as the houselights brighten, signaling that the audience, too, is part of this redemptive act.

Anthony Tommasini, New York Times, 26.07.2016

Religionskritischer "Parsifal" wirkt beunruhigend aktuell
Trauerspiele statt Festspiele: In Bayreuth wird die Eröffnung überschattet von den Anschlägen. Der neue „Parsifal“, der die Pervertierung von Religion durch Extremismus aufzeigt, wird gefeiert.

Egal, wie schön die Musik hier drinnen ist, egal, wie verbissen sie sich hier an ihren immer gleichen Ritualen festhalten: Dass die Welt draußen eine andere, feindseligere geworden ist, muss auch der Optimistischste zugeben beim Anblick all dieser bewaffneten Uniformierten, die auf dem ganzen Gelände ihre Kontrollgänge unternehmen.
Das ist die Situation, die Regisseur Uwe Eric Laufenberg auf der Bühne zeigt, im ersten Akt seines neuen Bayreuther "Parsifals". Singende Gralsritter, die sich an ihre regelmäßig wiederkehrende Liturgie klammern. Wenn es stimmt, dass Laufenberg die Idee dazu schon vor Jahren hatte, sollte er bei Gelegenheit mal Lotto spielen oder Fußballspiele tippen, anscheinend verfügt er über die unheimliche Begabung, die Zukunft vorherzusehen. Der erste Akt seines "Parsifal" ist jedenfalls von der Realität, von den Anschlagsnachrichten dieser Tage, auf deprimierendste Weise bestätigt worden.

Wie der Kult der Gralsritter, so wurde auch der Kult der Wagner-Fans in diesem Jahr überschattet von dem, was draußen passiert. Bayreuths traditioneller roter Teppich zur Eröffnung wurde gestrichen. Der Staatsempfang nach der Premiere auch. Viele Politiker-Promis sind gar nicht erst angereist. An allen Zugängen kontrollieren Polizisten die Taschen der Damen, tasten die Smokingjacken der Herren ab. Die grün-weißen Mannschaftswagen stauen sich auf dem Grünen Hügel. Am Himmel knattern Hubschrauber. Neben den bunten Fahnen an der Auffahrt wehen kleine schwarze Tücher von den Masten – die Aufführung ist den Opfern des Amoklaufs von München gewidmet. In diesem Jahr sind es keine Fest-, es sind Bayreuther Trauerspiele.

In "Parsifal", Richard Wagners letztem Werk, geht es passenderweise um die Frage, ob der Mensch in der Religion Erlösung von der sinnlosen Sündhaftigkeit des Diesseits finden kann – und wenn ja, wie so eine selig machende Religion aussehen müsste. Bei Laufenberg taumelt der jugendlich-unwissende Held Parsifal zwischen zwei Welten und gewissermaßen zwei Konfessionen hin und her. In der Welt des Grals hausen mönchsähnliche Tempelritter. Vordergründig üben sie sich in Werken der Nächstenliebe und gewähren Flüchtlingen auf Feldbetten Unterschlupf, aber wenn man unter sich ist, hat man immer einen fremdenfeindlichen Spruch auf Kosten des "wilden Weibes" Kundry auf den Lippen.

Vor den Toren tobt irgendein Krieg, immer wieder laufen Soldaten mit vorgehaltener Waffe durchs Bild; der Fortbestand des Ritterordens, das ist zu spüren, wird wohl nicht mehr von langer Dauer sein in dieser Region (ein später eingespieltes Video zeigt, dass sich das Gralskloster im Raum des heutigen Syrien zu befinden scheint).

Der Ritus, den die keuschen Gralsanhänger in ihren Kutten voller Inbrunst betreiben, besteht darin, ihrem König Amfortas zu liturgisch festgelegten Zeiten eine Klinge in die Seite zu stoßen und sein Blut zu trinken, eine Prozedur, die Amfortas, im Gegensatz zum Vorbild Christus, keineswegs freiwillig über sich ergehen lässt. Die Gralsritter wirken daher kaum wie echte Christen. Sie bilden eine sadistische Sekte. Kein Wunder, dass Parsifal rasch abreist.

Doch die andere Welt, das Reich des bösen Zauberers Klingsor (Gerd Grochowski), steht der Gralsbruderschaft in Sachen Fanatismus in nichts nach. Hier sollen die Blumenmädchen, leicht bekleidete Sexsklavinnen, Neuankömmlinge gefügig machen zur Eingliederung in einen unsichtbaren Orden. Das Zauberschloss ist, ganz wie von Wagner gewünscht, als orientalischer Märchenharem gestaltet, mit blauen Arabesken an der Wand und warmem Schwimmbecken.
Hier, im zweiten Akt, kommen nun tatsächlich die schwarz verschleierten Frauen vor, die im Vorfeld für so viele Spekulationen um eine vermeintliche Islamkritik gesorgt haben. Es sind die Blumenmädchen, auch wenn sie die langen Gewänder rasch fallen lassen, um Parsifal in bunten Bikinis zum Baden zu führen (Kostüme: Jessica Karge).

In Wahrheit ist Klingsor allerdings kaum ein Moslem: Insgeheim hortet er Kruzifixe wie Fetische, vor denen er sich mitunter selbst auspeitscht, wenn er nicht gerade eines von ihnen mit frechen Fingern liebkost. In seinem Reich herrscht so wenig der Islam, wie im Gralstempel das Christentum herrscht: Beides sind Pervertierungen von Religion an sich. Wie austauschbar die Extremismen sind, zeigt sich darin, dass Gralstempel und Zauberschloss nacheinander in derselben Kulisse eingerichtet werden, einem kirchenähnlichen Raum mit Apsis (Bühnenbild: Gisbert Jäkel).

Der unwissende Parsifal ist der einzige, der sich beiden Systemen entziehen kann, der immun bleibt sowohl für die Option reiner Keuschheit als auch für die der enthemmten Sinnlichkeit. Er besiegt Klingsor und entthront Amfortas, er reißt die Apsis-Einheitskirche ein und führt alle Jünger in eine neue, allerdings noch mit undurchsichtigem Theaternebel verhüllte Zukunft: Weil die Religionen, zumindest in dieser deformierten Gestalt, die Menschen nicht erlösen können, erlöst er die Menschen von den Religionen.

Bei den Sängern fällt vor allem der wunderbar volle Schmelz von Ryan McKinny als Amfortas auf, außerdem der gewohnt souveräne, unkaputtbar scheinende Bass von Georg Zeppenfeld als Gurnemanz. Elena Pankratova gibt eine angenehm weiche, dabei stets durchschlagkräftige Kundry.

In der Titelrolle, als "reiner Tor" Parsifal, zeigt Klaus Florian Vogt erneut, dass ihm alles, was mit Gral zu tun hat (so wie Lohengrin), besonders entgegenkommt. Wenn er im zweiten Akt endlich den begehrten heiligen Speer in Händen hält, wechselt er von einem zuvor eher kräftigeren Gesang zu seinem weltberühmten hellen, klaren, knabenhaften Tenor, und es fühlt sich an, als würde irgendwo einer das Licht anknipsen. Definitiv ein Kandidat als Tor des Monats.

Das Publikum zeigt sich am Ende jedenfalls gnädig mit der Produktion. Nicht nur Sänger, Orchestermusiker und der Dirigent, selbst das Regieteam wird nach dem dritten Akt bejubelt. Einmütiger Applaus für Musik und Szene, und das bei einer Premiere der Bayreuther Festspiele, wer hätte das vorhergesehen? Also, abgesehen von Uwe Eric Laufenberg natürlich.

Lucas Wiegelmann, Die Welt, 26.07.2016

Blutsordensbrüder
Die Neuinszenierung des „Parsifal“ bei den Bayreuther Festspielen spielt zwischen Kloster und Harem – musikalisch ist sie packend

Wie sich die Bilder gleichen! Draußen wird die vorwiegend weiße europäische Mehrheit der Bayreuther Festspielgemeinde durch Absperrungen und gefühlte Hundertschaften von Polizisten abgeschirmt vor dem Terror der Welt. Drinnen auf der Festspielhausbühne steht eine in islamischen Landen bedrohte christliche Klostergemeinschaft unter dem Schutz von Nato-Soldaten. Weder auf der Bühne noch in der Wirklichkeit kommt es dann aber zu besorgniserregenden Zwischenfällen.
Dennoch bleibt nach der diesjährigen Bayreuther Festspieleröffnungspremiere ein ungutes Gefühl zurück, zumal sich dieser massive Polizeieinsatz nun Abend für Abend wiederholen wird, sechs Wochen lang. Ist Theater mit seiner gedankenspielerischen Unschuld in einer Zivilgesellschaft überhaupt noch möglich, wenn es derart martialisch beschützt werden muss? Möglich vielleicht, aber Terroranschläge und Polizeipräsenz verändern zumindest die Rezeption. Unwillkürlich denkt der Zuschauer die aufgewühlte Realität draußen als Folie der Aufführung mit – erst recht, wenn eine Interpretation des „Parsifal“ eine christlich-islamische Konfrontation andeutet so wie die Neuinszenierung von Uwe Eric Laufenberg.

Laufenberg, Intendant des Staatstheaters Wiesbaden, sprang für den vor eineinhalb Jahren wegen angeblicher Etatüberschreitung geschassten Künstler Jonathan Meese ein. Er ist ein gewiefter Theatermann, der ähnlich unbekümmert zu Werke geht wie sein Protagonist. Dieser Parsifal ist ein Naivling vom Land, der aus Versehen an eine Heilsbringersekte gerät und schließlich zu deren Führer avanciert. Diese Rätselgeschichte von Richard Wagner ist zudem mit jeder Menge Frauenfeindlichkeit, Religionsklitterung, Tiefenpsychologie, Gesellschaftstheorie und Theatercoups aufgeladen. Daran hätten heute nur mehr Historiker ihre Freude, gäbe es nicht diese geniale, sich um keinen Terror der Welt scherende Musik, die das Überleben der Story garantiert.
Die „Parsifal“-Partitur ist nicht nur Wagners letzte, sondern auch seine beste. Nie zuvor hat er derart unaufdringliche Themen erfunden und sie dann so leichtgängig, ökonomisch und fern aller Tradition zu einem vierstündigen feinen Klanggewebe verarbeitet, in dem es eine perfekte Balance zwischen Sing- und Orchesterstimmen gibt. Diese avantgardistische Partitur ist bis heute eine Inspirationsquelle vieler Komponisten, für Dirigenten ist sie die ultimative Wagner-Herausforderung.
Dabei haben sich zwei Schulen herausgebildet. Die eine zelebriert eine weihevoll mystische Aura, auf die sich Daniel Barenboim unvergleichlich besser versteht als seine Kollegen. Die andere Richtung, der kürzlich verstorbene Pierre Boulez war ihr Großmeister, legt die kompositorische Raffinesse und die formale Logik des Stücks offen. Was nicht zwangsläufig zu einem trockenen Notenklauben führt, sondern den „Parsifal“ als ein hellsichtig ahnendes Stück beglaubigt, getragen von einer Vielzahl atmosphärischer Valeurs.

Das beweist in Bayreuth Hartmut Haenchen, der kurzfristig für den durch undurchsichtige Machenschaften aus Bayreuth vertriebenen Andris Nelsons einsprang. Haenchen ist nüchtern, aber nie steif oder unsensibel. Er hat nichts übrig für Klangweihrauch und Tonsoße, er liefert einen zügig flutenden Musikzauber, in traumhaften Pastellklangfarben gehalten. Und das Festspielorchester erfüllt ihm und dem hellauf begeisterten Publikum jeden nur denkbaren Wunsch.
So gelingen die Außenakte auf Weltniveau. Im Mittelteil gibt es kleinere Probleme, die auch mit den Sängern zusammenhängen. Publikumsliebling Klaus Florian Vogt ist als Titelheld ideal. Ein blonder Hüne mit nie unangenehm gleißender Stimme, die stets durchs Orchester dringt und jene Reinheit evoziert, die sowohl Parsifals Sexualfeindlichkeit wie auch seine Weltfremdheit beglaubigt. Seine Gegenspielerin Kundry ist vom Typ her eine Klischeemischung aus Heiliger und Hure. Elena Pankratova verfügt nicht nur über eine mächtige, gleichwohl agile Stimme, sondern auch über viel Schauspieltalent. Sie zeigt ihre Kundry einerseits als leidenschaftliche, selbstbewusste Frau, andrerseits als devot dienendes Mütterchen.

Das große Duett zwischen Parsifal und Kundry im zweiten Akt taucht musikalisch tollkühn in Seelenbereiche ein, die erst die Tiefenpsychologie ausgeleuchtet hat. Kundry wirft sich Parsifal als Geliebte an den Hals. Sie evoziert dabei seine Mutter, zugleich beschwört sie sie in Parsifal ihren Ex-Lover Amfortas. Dieses Duett ist also ein verkapptes Quartett. Das mag megakompliziert sein, aber solche Verstrickungen sind typisch Wagner. Dass einer solch perversen Psychokiste nicht allein mit Dirigentenakribie und Meistersängerschaft beizukommen ist, versteht sich. Ausgerechnet hier wirkt die musikalisch so packende Aufführung allzu konventionell.

Georg Zeppenfeld als Gurnemanz hält die Klostergemeinschaft in einem baufälligen Kuppelsaal zusammen, die Einheitsbühne stammt von Gisbert Jäkel. Gurnemanz ist Faktotum, Chronist, Pförtner, schlechtes Gewissen und Cellerar des Klosters – Zeppenfeld, in der Form seines Lebens, ersingt diesem Arbeitstier eine sympathisch bescheidene Autorität. Die Stimme ist genau fokussiert, die Textverständlichkeit grandios. Zeppenfelds Auffassung ähnelt in ihrer Nüchternheit und Genauigkeit der des Dirigenten. So sind die beiden das Traumduo des Abends. Die oft ermüdenden, schier endlosen Erzählungen des Gurnemanz werden zu einem riesigen Vergnügen.

Nur den Parsifal versteht dieser Menschenversteher nicht. Der ist ein verwahrloster Christenbub aus der Nachbarschaft, der gern herumballert, dann zur UN-Schutztruppe geht, anschließend als IS-Kämpfer sein Glück versucht und zuletzt zum neuen Abt avanciert. Der Regisseur spielt ungeachtet aller Wahrscheinlichkeiten einfach diverse Karrieremöglichkeiten für einen ungelernten, durchaus gesellschaftsgefährdenden Naivling durch – die Parallelen zur politischen Realität von heute dürften niemandem entgangen sein.

Der Führungswechsel im Kloster wurde notwendig, weil sich Alt-Abt Amfortas statt zu kämpfen im Harem des verfeindeten Paschas Klingsor (Gerd Grochowski) amüsiert hat. Vielleicht ist das aber auch gar kein Harem, sondern ein Arabien-Puff, wie ihn der europäische Orientalismus des 19. Jahrhunderts erträumte. Amfortas kam gerade noch mit dem Leben davon, jetzt humpelt er blutend im Jesus-Look mit Dornenkrone durchs Kloster. Ryan McKinny ersingt diesem Schmerzensmann alles Mitleid der Welt.
Dann wird das vampiristische Ritual vollzogen, es soll die Klostergemeinschaft moralisch und physisch stärken. Einer der Brüder, die sonst so buddhistisch streng auf die Unverletzlichkeit jeder Kreatur pochen, stochert brutal in Amfortas’ Brustwunde herum, das im Übermaß sprudelnde Blut wird in einem Kelch aufgefangen und von allen getrunken. Laufenberg überstrapaziert die bei Wagner nur schwach vorhandenen Parallelen zwischen Jesus und Amfortas, er personalisiert ein von der Person unabhängiges Ritual und tut dies mit einer nachgerade unfreiwilligen Komik. Aber auch andere religiös motivierte Momente unterläuft er mit dieser zumindest unbeholfenen Komik. So greift sich Parsifal die heilige Lanze wie ein Staffelläufer den Stab bei der Übergabe und zerbricht sie überm Knie, als wolle er Kleinholz fürs Lagerfeuer machen.

Zuletzt wird das mittlerweile vollkommen baufällige Kloster von riesigen tropischen Pflanzen zugewuchert. Zum Karfreitagszauber erscheinen die offenbar aus Klingsors Harem-Bordell entlaufenen Zaubermädchen, einige tanzen im Regen. So werden Fernreisen in exotische Länder beworben. Mit solchen Bildern zeigt Laufenberg allzu überdeutlich, wie befremdlich sich religiöse Relikte in der heutigen Amazon-Plastik-Welt ausnehmen.

Letztlich lehnt dieser Regisseur also die utopische Vision Wagners ab, die Erlösung oder wenigstens spirituellen Frieden für grundsätzlich möglich hält. Hier trifft Laufenberg sich mit dem Dirigenten. Haenchen formuliert ständig Zweifel an der religiösen Grundierung des „Parsifal“. Sie ist ihm allenfalls Ausgangspunkt für eine Ästhetik, die eine bis dato völlig neue Klangwelt ermöglicht. So haftet bei Haenchen den vielen Chorälen, Jubelgesängen und Ritualmärschen nie der Ruch von säkularisiertem Gottesdienst an. Die emotionale Entschlackung mag so mancher Zuhörer bedauern, sie macht aber auf hinreißende Weise nachvollziehbar, wie sehr Wagner den „Parsifal“ als ein intellektuelles Klangabenteuer konzipiert hat. Das erklärt die Sonderrolle des Stücks im Repertoire. Wenig verwunderlich, dass dieses Mal auch die umstrittenen Schlussverse „Erlösung dem Erlöser“ einem sehr viel weniger aufstoßen als üblich. Sie wirken angesichts von Attentaten, IS-Terror und Sicherheitswahn wie die gemurmelte Bitte eines zutiefst Ungläubigen.

Reinhard J. Brembeck, Süddeutsche Zeitung, 26.07.2016

2016 – Odyssee im Weltraum
Unter erhöhten Sicherheitsvorkehrungen und vor stark verminderter Prominenz haben zwei Einspringer in Bayreuth Richard Wagners letztes und schwierigstes Werk auf die Bühne des frisch renovierten Festspielhauses gebracht. Der Festspiel-Auftakt überzeugte szenisch oft, musikalisch fast immer.
Weg mit dem Tand! Die Ritter nehmen Abschied. Schreiten hin zum Sarg Titurels in der Bühnenmitte, in den Parsifal schon die zum Kreuz verbundenen Hälften des Speers gelegt hat, und werfen hinein, was ihnen heilig war: Kreuze, Kelche, Leuchter, Götterbilder. Das muss alles weg, wenn die Grenzen zwischen den Religionen fallen, wenn sich ideologische Fronten auflösen sollen in einer großen Friedens-Utopie, die am Ende dieser „Parsifal“-Premiere auch alles Kunstreligiöse und Wagnerkultige einschließt. Im Festspielhaus gehen bei der letzten Szene die Lichter an, der Vorhang schließt sich vor dem Applaus nicht wieder, und eigentlich würde es passen, wenn das Publikum jetzt keinen Beifall spendete, sondern einfach hinausginge aus dem Saal, wenn es das Spalier der Sicherheitskräfte und Polizisten in Bayreuth still durchschreiten und sich fragen würde, wie es dazu kommen kann, dass allerorten die Angst umgeht vor Menschen, die Terror und Gewalt mit religiösen Motiven legitimieren.

Wagners letztes Bühnenwerk ist auch sein schwierigstes. In Bayreuth haben sich zuletzt Stefan Herheim (mit einem Vexierspiel voller historischer, kunstgeschichtlicher und philosophischer Verweise) und Christoph Schlingensief (mit einem bunten Sammelsurium als „Friedhof der Kunst“) die Zähne an ihm ausgebissen; dem streitbaren Künstler Jonathan Meese, der sich in diesem Jahr wohl zuallererst selbst im „Parsifal“ spiegeln wollte, haben die Festspiele (offiziell aus finanziellen Gründen) den Regie-Auftrag entzogen, und so hat jetzt Uwe Eric Laufenberg, der als Opernintendant 2014 von Köln nach Wiesbaden wechselte, das synkretistisch zwischen Christentum, Buddhismus und Schopenhauer angesiedelte Stück in Szene gesetzt. Geholfen hat ihm dabei der Bühnenbildner Gisbert Jäkel, der den ersten Akt in einer christlichen Kirche, den zweiten in einer Moschee und den dritten schließlich zwischen zwei halb zerstörten Gebäudehälften spielen lässt, welche die Natur gerade mit Macht zurückerobert. Riesige Pflanzentriebe wuchern durch Fenster und Türen. Eines der Wesendonck-Lieder Wagners heißt „Im Treibhaus“; das Bild zur Musik gibt es hier.

Es liegt in der Natur eines aus so unterschiedlichen Elementen und Ideen zusammengesetzten Stückes wie des „Parsifal“, dass auch seine Interpretationen etwas Patchworkartiges haben müssen, wenn sie dem Werk nicht Gewalt antun wollen. Das ist auch in Uwe Eric Laufenbergs Inszenierung der Fall. Sogar dass bei ihm überzeugende Bilder und wenig Zwingendes nebeneinander stehen, ließe sich begründen – zumindest mit der These, dass man bei Wagners gedanklich und ideologisch komplexem „Bühnenweihfestspiel“ wohl nie an ein Ende des Denkens kommen wird. „Parsifal“ bleibt, nicht nur wegen seiner kryptischen Forderung „Erlösung dem Erlöser!“ ein ewiger Streitfall.

Schon zur Musik des Vorspiels sieht man Pilger, vielleicht auch Flüchtlinge, die auf Feldbetten lagern; einer von ihnen hebt die Hände, als ein heller Lichtstrahl auf ihn fällt. Das ist schon ein bisschen kitschig. Unter den Menschen, die das Gebäude bevölkern, sind auch halb verschleierte Frauen, und die Brotstücke, die verteilt werden, muten an wie jüdische Mazzen. Als Gurnemanz den „wundervollen, heiligen Speer“ besingt, machen hinter ihm schwer bewaffnete Soldaten Rast, und als er vom Gral erzählt, hängen mönchische Ritter hinter ihm eine Jesus-Figur ans Kreuz. Das sind keine neuen Ideen: In Laufenbergs Inszenierung findet sich Vieles wieder, was zuletzt zu „Parsifal“ ins Bild gesetzt worden ist. Der kleine Junge, der in dem Moment tot zu Boden fällt, als der Titelheld jagend einen Schwan erlegt: Ihn sah man schon bei Calixto Bieito in Stuttgart, aber in Bayreuth steht er nun nicht für einen gefallenen Engel, sondern gleicht jenem toten Flüchtlingskind am Mittelmeer, dessen erschütterndes Bild wochenlang durch die Medien ging. Ein wenig plump ist das schon, aber wie heißt es so schön: Wir werden abgeholt.

„Zum Raum wird hier die Zeit“: Das hat der Regisseur wörtlich genommen. Bei Gurnemanz’ Worten senkt sich ein Vorhang, Wagners Musik wird, was sie auch ist, nämlich wirkungsvoller Filmsound, und zu sehen sind Bilder, die jenen zu Beginn von Stanley Kubricks Kultfilm „2001 – Odyssee im Weltraum“ gleichen. Von einem kleinen Ort im Zweistromland fährt die Kamera durch schwirrende Planeten, an der Sonne vorbei und wieder zurück. Eine tolle, wirkungsvolle, sprechende Idee. Auch die anschließende Abendmahlsszene hat nichts Verbrämtes: Amfortas trägt eine Dornenkrone, und Laufenberg folgt jener Deutung, der zufolge Joseph von Arimathia das Blut des gekreuzigten Jesus in einer Schale auffing. So wird der Mann mit der Wunde zum Märtyrer, zum Opfer einer Gemeinschaft, die (sehr katholisch) so stark vom Bewusstsein der eigenen Schuld geprägt ist, dass sie eine Projektionsfigur braucht, um ihr Leid abladen und selbst weiterleben zu können. Der chorische Ringelreihen um das Taufbecken wäre anschließend nicht nötig gewesen.

Titurels Schloss ist eine Moschee, in welcher der Zauberer vergebens seinen Gebetsteppich ausrollt: Erst lässt sich die richtige Himmelsrichtung nicht finden, dann zieht es ihn nach oben in sein kleines, kreuzbehängtes christliches Séparée, dem Ort seiner Sehnsucht und Qual, wo er sich geißelt, während unten aus verschleierten Musliminnen Haremsmädchen – eben Wagners Blumenmädchen – werden (im Folgeakt duschen diese im Regenwald unter einem Wasserfall, aber das ist vielleicht nicht ganz so zwingend). Hier zieht Parsifal erst einmal nun als Soldat ein, küsst Kundry, und als er („Amfortas! Die Wunde!“) zurückweicht, ist der Mann da, an den er sich gerade erinnert – und vollzieht den Geschlechtsakt, den Wagners „reiner Tor“ nicht vollziehen will, kann oder soll. Die verquaste Philosophie der Erlösung durch Entsagung, die bei Wagner hinter diesem Bild steht, bleibt auch hier sehr fremd und fern, aber das ist nicht weiter schlimm, denn dem Komponisten selbst ging es zumindest in der Praxis auch nicht anders.

Eine Qualität von Laufenbergs Inszenierung ist, dass sie auf dem Weg vom Christentum zur Kunstreligion Dynamik entfaltet – bis hin zum dritten Akt, in dem Parsifal nach jahrelangen Irrwegen die Montur eines als IS-Kämpfers gegen den schwarzen Anzug eines Festivalbesuchers tauscht (aus Ideologie wird Kunstreligion, siehe oben). Diese Dynamik kommt auch aus dem Orchestergraben, und der Mann, der die Tempi straff (fast so straff wie seinerzeit Pierre Boulez), außerdem überaus beweglich flexibel hält und die Lautstärkegrade ebenfalls fein abstuft, ist Hartmut Haenchen, der zweite Einspringer des Abends – er kam für Mariss Jansons, der kurzfristig seine Arbeit abbrach. Nach einem noch etwas diffusen Vorspiel zum ersten Akt macht Haenchen seine Sache richtig gut. Wer einen „Parsifal“ mit Bühnenweihfestspiel-Weihrauch hören will, ist bei ihm allerdings schlecht aufgehoben.
Unter den Wagner-Tenören ist Klaus Florian Vogt mit seiner klar fokussierten, reinen, hellen, „naiven“ Stimme (Sänger-Kenner bezeichnen sie als „weiß“) in der Titelpartie eine Idealbesetzung. Gelegentlich fehlt es ihm ein wenig an Tiefe, gelegentlich geraten Verzierungen nicht ganz sauber, aber so wie Vogt singt, stellt man sich einen vor, der „durch Mitleid wissend, der reine Tor“ sein soll. Elena Pankratova glänzt als klangfarbenreiche Kundry vor allem im zweiten Aufzug; Georg Zeppenfeld gibt einen Gurnemanz, der wirkt wie ein dramatischer Evangelist in Bachs Passionen: empathisch miterlebend, präzise gestaltend – eine exzellente Besetzung.

Und über allem schwebt ein Mann. Drei Akte lang sitzt eine Puppe auf einem Stuhl, beobachtet durch ein Loch auf einer vom Bühnenhimmel hängenden Plattform reglos, was unter ihm lebt, liebt und leidet. Das, denkt man, kann nicht Christian Thielemann sein, der musikalische Chef, der auf dem Grünen Hügel auch Kollegen so kontrolliert, dass sie womöglich den Bettel hinschmeißen. Nein, das muss wohl Gott sein: ein stummer Gast. Für den zu kämpfen, ist wirklich nicht der Mühe wert.

Susanne Benda, Stuttgarter Nachrichten, 26.07.2016

Wer sitzt nur da oben über der Bühne in der Kirchenkuppel und hält die ganze Zeit still auf seinem Stuhl? Jemand von der Sicherheit? Gott? Oder gar Richard Wagner? Alle drei hätten gute Gründe, die Situation im Blick zu behalten.

Die Security: Das Festspielhaus ist bei der Eröffnung ein Hochsicherheitstrakt. Drei Kontrollen muss der Besucher passieren. Da wäre es nur angemessen, auch ein Auge auf die Bühne zu haben, zumal im Vorfeld durchgesickert ist, dass 35 Festspiel-Mitarbeiter etwas Größeres auf dem Kerbholz haben.
Es ist erst die 10. Neuinszenierung des Bühnenweihfestspiels im Bayreuther Heiligtum. Sie kann nach Stefan Herheims wunderbar vielschichtiger Deutung keinen leichten Stand haben. Wiesbadens Staatstheater-Intendant Uwe Eric Laufenberg wurde 2014 zum Ersatzmann ernannt für Jonathan Meese, den notorischen Hitlergrüßer. Eine Wackelpartie könnte Hartmut Haenchen am Dirigentenpult werden. Er hat erst vor drei Wochen die Mission vom entlaufenen Andris Nelsons übernommen.

Am Ende aber geht Haenchen als gefeierter Held vom Platz. Es ist ein in den Tempi straffer, im Vorspiel dabei schön entwickelter, dynamisch in den Chören etwas robuster Wagner, in dem Richard durchaus eigene Zeiten und Anweisungen wiedererkennen könnte: nicht pathetisch, nicht schleppend, nicht zu gedehnt. Dabei hat Haenchen starke Sängerdarsteller als Mitstreiter: Star des Abends ist Georg Zeppenfeld mit einem unermüdlich klar artikulierenden Belcanto-Gurnemanz neben Klaus Florian Vogts Parsifal, der die naive Toren-Reinheit im Timbre trägt. Eine mütterliche, glühende Kundry ist Elena Pankratova, und Ryan McKinny lässt den Schmerzensmann Amfortas expressiv leiden. Übrigens werden auch Richard Wagners Regieanweisungen bisweilen wörtlich umgesetzt. Zu historischen Szenenfotos fehlt dann nur der Augenaufschlag gen Himmel.

Gott: Er aber müsste sich wohl die meisten Sorgen machen. Religionskritisch sollte die Inszenierung werden, war ruchbar geworden. Vielleicht sogar islamkritisch, was 1001 mal dementiert wurde.
Die schwarze Kluft der Blumenmädchen, die sich als Haremsdamen entpuppen und Parsifal im Hamam verwöhnen, dürfte kaum Provokationspotenzial haben. Tatsächlich scheint der Regisseur, nachdem er sich hässliche Erfahrungen als Kölner Intendant in einem Schlüsselroman („Palermo“) von der wunden Seele geschrieben hatte, nun die Traumata einer katholischen Kindheit anzugehen: Die Gralsritter zapfen ihr Blut, etwas vampirmäßig, direkt am Leib des Amfortas. Kurioserweise schießt der Lebenssaft von oben, wenn ihm in die Seite gestochen wird. Aber Wagners hehres Spätwerk ist ohnehin voller Wunder. Diese vollziehen sich in Gisbert Jäkels Bühnenbild in einem zerschossenen Kirchenraum, in dem aktuelle Konflikte und Krisen zunächst anrührend nahe sind: Mönche kümmern sich irgendwo im Nahen Osten um Flüchtlinge. Die Sympathie für diese Gralsritter bekommt, wenn man ihren Ritus sieht, allerdings einen Riss, den Klingsors Gegenwelt vertieft. Sein maurisch dekoriertes „Zauberschloss“ nutzt nämlich die gleiche Kirchen-Architektur und scheint nur die Kehrseite einer insgesamt fragwürdigen Medaille zu sein.

Gerd Grochowskis Klingsor ist ein Ex-Christ, der sich aus dem Vorleben neben einer guten Portion Masochismus eine Kruzifix-Sammlung bewahrt hat. Dass er Amfortas als Geisel nimmt und dieser seine sündige Beziehung zu Klingsors erotischer Lenkwaffe Kundry aktualisiert, während Parsifal das Mitleid entdeckt, verkompliziert die Lage erheblich. Und führt endgültig vor Augen, dass Laufenbergs realistische Ansätze mit ihren Aktualisierungs-Versatzstücken am Erlösungs-Brocken abprallen. Man wünscht sich zwar nicht Wolfgang Wagners gravitätische Gralsritter an kristallinen Gummibärchen-Skulpturen zurück, aber ein wenig mehr Stilisierung braucht das geniale Bühnenweih-Machwerk wahrscheinlich schon. Immerhin: Langweilig wird es nicht. Während man sonst im 3. Aufzug wegdämmert, sorgt jetzt eine Flower-Power-Karfreitagsaue mit Mädchen, die im Regenwald nackt duschen, für allgemein gesteigerte Aufmerksamkeit.

Wer nun ist der Mann in der Kuppel? Manches spricht dafür, dass es doch Klingsor ist, für den kein Platz bleibt in der Schluss-Utopie. Die Weltreligionen legen ihre Symbole in Titurels Sarg und schreiten, während sich die Szene weitet, in eine Zukunft, in der Gott und Security keinen Platz mehr haben. Ob Richards Kunstreligion dann bleiben darf? Hoffentlich.

Volker Milch, Wiesbadener Kurier, 27.07.2016
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