Blaugelbe Brille - Protest gegen Anna Netrebko

Blaugelbe Brille - Protest gegen Anna Netrebko

Den stärksten Eindruck dieses denkwürdigen Abends hinterließ natürlich die Sopranistin Anna Netrebko als Sklavin "Abigaille" in Giuseppe Verdis "Nabucco". Jener Oper mit dem berühmten Gefangenenchor, der die Freiheit der Hebräer gegen die Babylonier beschwor, womit sich die Italiener später in ihrem Freiheitskampf sogleich identifizierten und nun offenbar auch die demonstrierenden Ukrainer vor dem Wiesbadener Staatstheater.

Etwa 100 bis 300 waren es, laut Polizeiangaben sogar 450, in der Pause dann schon deutlich weniger. Vor der blaugelb beflaggten Gruppe wandelte ein Mann mit einer übergroßen Ziegenglocke - eine im Gegensatz zur volltönenden alpenländischen Kuhglocke ziemlich geradlinig und leicht konisch geformte Eisenglocke mit schärferem, obertonarmen Gebimmel. Er fungierte als Einpeitscher und ging vor allem den Polizisten auf die Nerven, die sich zwischen Demonstranten und Opernpublikum postiert hatten.

Angekündigt hatte die Demonstration die Europa-Union, nach eigener Aussage eine Bürgerinitiative für Europa mit 17 000 Mitgliedern. Sie wandte sich gegen das Engagement der Starsopranistin und schaffte es auch, etwa 25 Musiker des Hessischen Staatsorchesters vor das Hauptportal zu locken, um dort die ukrainische Nationalhymne und die Europahymne zu spielen. Dann übernahmen die Demonstranten das Geschehen. Immer wieder meldeten sich vor allem Frauen mit Sprechchören zu Wort, aus denen immerhin der Name Netrebko herauszuhören war. Auf Schildern sah man Leichen und ein Bild der Netrebko, der man vorwarf, den Krieg in der Ukraine unterstützt zu haben.

Ohne Demonstranten wäre die Oper ohne aktuelle Brisanz über die Bühne gegangen

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Doch diese Einschätzung ist selbst in deutschen Medien umstritten. Es geht um zwei Tatbestände, die vor dem Krieg stattfanden: um eine Geldspende Netrebkos vom Dezember 2014 an ihre Kollegen des Opernhauses Donezk, die kein Gehalt mehr von der ukrainischen Regierung erhielten und in diesem Zusammenhang ein Foto mit dem Separatistenführer Oleg Zarjow. Zweitens um ihre Geburtstagsfeier in einem öffentlichen Konzertsaal des Kremls mit Video-Grüßen Putins. Allerdings: Solche Bilder wirken stärker als alle Beteuerungen Netrebkos, nichts mit dem Regime am Hut zu haben. Viele glaubten ihr schlichtweg nicht.

Der Münchner Staatsopernintendant Serge Dorny kündigte ihre Verträge, ebenso der Met-Chef Peter Gelb, der außer ihrer offiziellen Distanzierung von Krieg und Kreml-Regierung verlangte, dass sie Putin als Diktator benennen solle. Gelb musste für die gekündigten Verträge immerhin 200 000 Dollar Entschädigung zahlen. Der Intendant des Wiesbadener Staatstheaters, Uwe Eric Laufenberg, sagt, Anna Netrebko habe sich nichts zu Schulden kommen lassen. Damit ist er nicht allein. Musiker aus aller Welt, darunter der Dirigent Sir Antonio Pappano, Musikdirektor des Royal Opera House in London, pflichten ihm bei.

Die Ironie der Gesamtveranstaltung dieses Abends erschloss sich erst im Theater selber, und man muss davon ausgehen, dass Laufenberg ein Stein vom Herzen fiel, als er die Demonstranten sah. Ohne die hätte sich die mentale Verschränkung von herausgebrüllter Verzweiflung draußen und wohl gesetzter musikalischer Tragödie drinnen gar nicht ereignen können. Dann wäre Giuseppe Verdis Oper "Nabucco" ohne die aktuelle Brisanz über die Bühne gegangen. Denn, was von einigen ukrainischen Künstlern, die abgesagt hatten, als Provokation empfunden wurde: Laufenberg widmete nicht nur diesen Abend, sondern das gesamte Wiesbadener Maifestival mit Musik und Theater den politischen Gefangenen weltweit und ausdrücklich auch jenen, die in russischen Gefängnissen sitzen.

Dafür steht in Verdis "Nabucco" natürlich der Gefangenenchor, aber eigentlich die ganze Oper. Der Babylonierkönig Nabucco (stimmlich nicht überzeugend: Zeljko Lucic) belagert Jerusalem, seine Tochter Abigaille (mehr als überzeugend: Anna Netrebko) erobert mit Soldaten den Tempel, ihre jüngere Schwester ist in den Händen der Hebräer. Abigaille verspricht Frieden gegen die Herausgabe der Schwester und die Zusage von Ismaele, sie zu heiraten. Die Schwester wird freigelassen, doch Nabucco befiehlt die Zerstörung des Tempels. Daraufhin wird er vom Gott der Hebräer mit Wahnsinn geschlagen und erst am Ende, wenn er sich diesem Gott fügt, geheilt.

Man kann an diesem Abend nicht umhin, die ganze Geschichte und nahezu jedes Detail darin durch die blaugelbe Brille der Ukraine zu lesen, den verrückten Nabucco mit Putin gleichzusetzen, die unterdrückten Hebräer mit den Ukrainern. Und es kommt noch schlimmer: Anna Netrebko ist die böse Abigaille, die am Ende von Jehova durch Blitzschlag eliminiert wird. Denn sie hat die Hebräer erneut gefangen nehmen lassen, nachdem ihre Schwester als Stellvertreterin des Krieg führenden Nabucco diese freigelassen hatte. Auch die Schwester hat sie auf den Richtplatz führen lassen, um selber Königin zu werden. Aber wer ist sie schon?

Jedenfalls keine Königstochter, wie behauptet, sondern, wie sich herausstellt, eine von Nabucco adoptierte Sklavin. Diese Erkenntnis bringt ihre Wut erst so richtig auf Touren und die Netrebko zu höchsten Tönen. Wobei sie neuerdings in tieferer Lage viel überzeugender klingt, wärmer, anrührender. Ihre letzte große Arie mit der Bitte um Vergebung ist das künstlerische und menschliche Ereignis dieses Abends. Selbst Dirigent Michael Güttler, der zwar präzise, aber etwas statisch und schwunglos durch die Oper führt, kommt beim Gesang der Netrebko ein wenig in Fahrt, als liefere sie die Inspiration, die aus der trockenen Partitur erst Musik entstehen lässt.

Ein Boykott russischer Kunst? Die Ukraine will das erreichen

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Würde der Gesang der Netrebko, der Steine erweicht, auch die Demonstranten rühren und würden sie sehen, dass diese große Künstlerin durchaus unter den Anwürfen leidet? Ihre Unbekümmertheit scheint weitgehend verflogen und damit auch ein Teil dessen, was man an Künstlern schätzt: ihre nahezu weltfremde Unvoreingenommenheit und Menschenfreundlichkeit. Ihre Fähigkeit, Menschen davon zu überzeugen, weniger ihren Ängsten zu folgen als einem vielleicht noch tiefer sitzenden Glauben an das Gute, Schöne, möglicherweise Wahre.

Für die Demonstrierenden ist Anna Netrebko wohl weiterhin eine Provokation. Zumal sie sich auch standhaft weigert, der russischen Kultur abzuschwören. An der Mailänder Scala sang sie Lieder russischer Komponisten, von Rimskij-Korsakow, Rachmaninow und Tschaikowsky, deren Werke in Polen und der Ukraine nicht mehr aufgeführt werden dürfen. Die ukrainische Regierung will diesen Boykott russischer Kunst auch außerhalb ihres Landes durchsetzen.

Als bekannt wurde, dass Anna Netrebko in Wiesbaden auftreten werde, schrieb der ukrainische Botschafter einen Protestbrief an die Kulturbeauftragte des Bundes, Claudia Roth, in dem er ein Auftrittsverbot für Anna Netrebko forderte. Hessens Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) und der Wiesbadener Oberbürgermeister Gert-Uwe Mende (SPD) - das Theater wird von Stadt und Land finanziert - schlossen sich nun an. Man wolle "rücksichtsvoll, sensibel und mit klarer Haltung an der Seite der Ukraine stehen", sagte Mende. Aber, das sagte er auch, man müsse den Dissens mit dem Opernintendanten Uwe Eric Laufenberg aushalten.

Und das Publikum? Das musste an diesem Abend am meisten aushalten, auch wenn es den Demonstranten nicht gelang, die Veranstaltung an sich zu reißen. Nach der Vorstellung standen sie aber Spalier, applaudierten höhnisch und beschimpften die Zuschauer. Vorneweg der Mann mit der Ziegenglocke. Und die klang nicht wie in Schillers "Lied von der Glocke", wo es am Ende heißt "Friede sei ihr erst Geläute". Trotzdem muss man Laufenbergs Standhaftigkeit oder Provokation, wie er es sicherlich lieber hörte, zubilligen, den Diskurs um die Freiheit der Kunst aufrechterhalten und damit einen Friedensbeitrag geleistet zu haben. Denn Kunst und Krieg vertragen sich nicht gut.

Helmut Mauró / SZ Feuilleton / 08.05.2023